Folge 11 - Wirtschaftsboom und Fresswelle

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Folge 11 - Wirtschaftsboom und Fresswelle

Die Jahre zwischen 1950 und 1970 waren in Westdeutschland von Aufbruchsstimmung geprägt.

Arbeitslosigkeit war kaum vorhanden, der technische Fortschritt nicht zu bremsen und auf einmal schien alles möglich.

Der Lebensstandard hob sich, jetzt konnte sich nahezu jeder ein Auto leisten, in Urlaub fahren und ohne Limit essen.

Diese Zeit ist das Sprungbrett, mit dem sich die Kuhmilch als Massenprodukt in den Markt katapultierte, um dort zum Standard zu werden.

Transkript

Schön, dass du wieder dabei bist bei Milchgeschichten, dem Podcast rund um die Kuhmilch. Ich bin Stefanie und ich möchte dir heute von der Zeit in den 1960er und 70er Jahren in Westdeutschland erzählen.

Dazu möchte ich zunächst aus dem Band 2 der Sozialgeschichte zitieren: “In den 1950er Jahren ist Arbeitslosigkeit nahezu unbekannt. 20 Jahre später nimmt sie jedoch aufgrund des Wandels in der Wirtschaft und der Gesellschaft stetig zu. Im Jahr 1970 gibt es noch nicht einmal 150.000 Arbeitslose. Im Jahr 1975 wird schon die siebenfache Menge gezählt. Mehr als 1 Million Menschen haben keine Arbeit. Bis Mitte der 1980 er Jahre verdoppelt sich die Zahl noch einmal auf über 2 Millionen.“

Die Situation war in den 1950er, 60er, 70er Jahren also eine sehr entspannte Situation, was die Arbeitslosigkeit anging, zumindest Anfang der 1970er Jahre. Und es ist wirklich diese Aufbruchsstimmung zu spüren. Es gibt einen Wandel von der Industriegesellschaft zur Dienstleistungsgesellschaft. Durch den technischen Fortschritt fallen immer mehr Arbeitsplätze in Industrie und Landwirtschaft weg. Maschinen übernehmen die Arbeit der Menschen, vor allem natürlich auch in der Milchwirtschaft wird alles durch technisiert.

Wir müssen da nur an den Melkmaschinen denken, die dann ab den 1970 er Jahren in den meisten Betrieben, nicht nur in vielen Betrieben, in den meisten Betrieben dann Standard wurden. Wer mithalten wollte, musste technisch aufrüsten. Und so entstanden dann die spezialisierten Betriebe.

Die Situation damals war eine sehr positive Situation. Es gab einen Wirtschaftsboom, ein Wirtschaftswachstum, das immer mehr, mehr, mehr wurde. Wirtschaftswachstum war die Maxime. Die grundsätzliche Stimmung war optimistisch. Es wurde an Fortschritt geglaubt und das Motto war „Nichts ist unmöglich.“ 1969 mit der Mondlandung, wurde gezeigt, dass wir auch den Weltraum erobern konnten. Wir haben nach vorne geschaut. Wir wollten nach den Sternen greifen, den amerikanischen Lebensstil kopieren.

Wirklich weiter, bloß nicht mehr zurückblicken, nicht mehr auf den Mangel zurückblicken, nicht mehr auf diese braune Vergangenheit zurückblicken. Einfach nach vorne schauen. Auf das Positive. Und bloß nicht politisch engagieren. Es war wirklich eine Zeit, in der sich die Menschen befreien wollten. Sie wollten einfach konsumieren, sie wollten es sich gut gehen lassen und das hat 20 Jahre auch funktioniert. Also wie erwähnt, zwischen 1950 und 1970 gab es quasi keine Arbeitslosigkeit.

Das war auch die Zeit, wo dann Menschen aus anderen Ländern angeworben wurden, dass sie bei uns arbeiten sollten, die wir dann später unbedingt wieder loswerden wollten. Es gab eine Vollbeschäftigung, der Lebensstandard stieg. Es gab die Reisewelle, den Autoboom. Auch der „kleine Mann“ konnte sich dann ein Auto leisten, ein Eigenheim musste her. Es gab einfach diese Standards. Man musste besitzen, konsumieren.

Und in dieser ganzen Welle gab es natürlich auch die Fresswelle, so dass wirklich das Konsumieren von Nahrung nun auch einen hohen Stellenwert bekam. Es ging nicht mehr ums Überleben, sondern es ging jetzt darum, dass man sich all das, was man sich früher nur am Sonntag oder einmal im Monat gegönnt hat, mehrmals täglich gönnen konnte. Das gehörte zu einem hohen Lebensstandard dazu. Wohlstandsbauch, dieser Begriff, das stammt alles aus dieser Zeit.

Natürlich gab es das auch schon vorher in anderen Generationen, aber jetzt, nach dem Zweiten Weltkrieg, war wirklich das höchste Prinzip Wirtschaftswachstum nach vorne schauen, Fortschritt, technische Neuerung und dann Wohlstand, also Wohlstand in allem. Endlich konnten die Deutschen in Urlaub fahren. Endlich konnten sie sich mal was leisten. Sie konnten es sich einfach gut gehen lassen. Das ging natürlich nur dadurch, dass diese ganzen Förderungen da waren wie der Marshall Plan und der grüne Plan und alles was ich schon in den vorangegangenen Folgen genannt hatte, die mitgeholfen haben, die Wirtschaft in Deutschland wieder aufzubauen, zumindest in Westdeutschland.

Aber es war auch wichtig, um die Moral der Deutschen wieder aufzubauen und ihnen etwas zu geben nach all diesen harten Jahren. Und die Milchwirtschaft hat in dieser Zeit die Rolle wirklich zum einen die Deutschen gesund zu erhalten, weil ja die Milch immer als gesundes Nahrungsmittel propagiert wurde, aber zum anderen auch natürlich die Wirtschaft anzukurbeln, das Wirtschaftswachstum genauso anzukurbeln.

Mit dem Wohlstand kam dann auch der Wunsch, gesund zu sein und da griff dann wieder die Werbung, die die Milchwirtschaft über den Milchkaufmann an die Bevölkerung aussandte, dass die Milch 100 % gesund war und bestimmte Nährstoffe hatte, die jeden gut und rundum versorgte, nicht nur kleine Kinder und kranke oder ältere Menschen, wofür die Milch früher genutzt wurde, sondern komplett alle Menschen. Und da ging die Milchwerbung wirklich stark in die Tiefe.

Diese Zeit, die zwischen 1950 und 1970 ist wieder ein ganz starker Wandel. Also zum einen dieser starke Wirtschaftsboom, dass es den Menschen gut geht und sie ihren Lebensstandard heben können, dass sie endlich vergessen können, was sie alles an Schrecklichem erlebt haben dadurch, dass sie konsumieren, dass Konsum quasi die neue Religion ist. Aber zum anderen gibt es auch einen Strukturwandel.

Denn der steigende Lebensstandard treibt die Menschen in die Vorstädte und lässt Pendler und Arbeitsstädte entstehen. Vorstädte deshalb, weil es dort gesünder sein soll und grüner und dann man dort sein Eigenheim hat. Und vor allem auch funktioniert es nun, weil jeder ein Auto hat. Ohne Auto würde es nicht funktionieren und es könnten keine Pendler entstehen. Dieses ganze Konstrukt, dass wir ein Wirtschaftswachstum haben, dass es den Menschen gut geht, dass der Lebensstandard sich hebt und dass sich endlich jeder ein eigenes Auto leisten kann, führt dazu, dass diese Vorstädte entstehen und dass dadurch ein anderes Arbeiten entsteht und andere Strukturen entstehen.

Und bei dem Milchkaufmann stellt sich dann die Frage: Wie kommt der Milchkaufmann nun zum Kunden? Und der Zentralverband des Deutschen Milchhandels empfiehlt dann seinen Mitgliedern, vom Ladengeschäft auf einen Wagen umzusteigen, mit dem er dann die Kunden an ihrem Wohnort aufsuchen kann. Und das ist auch eine Art, wie sich der Milchkaufmann versucht, an den Strukturwandel anzupassen. Denn nun kommen auch die Supermärkte und es ist so, dass durch diese Vorstädte, in denen es ja keinen Ortskern mehr gibt, wo es wirklich Läden gibt, in denen man einkaufen kann, auch diese Supermärkte entstehen, die dann am Rand der Vorstadt oder zwischen der Vorstadt und der Arbeitsstadt entstehen, in Brachflächen, auf denen dann dieses Supermarktgebäude gebaut wird.

Und der Milchkaufmann versucht dann noch zu überleben und versucht auf den Kundendienst auf Rädern umzusteigen, wird aber durch dieses Selbstbedienungskonzept dann verdrängt.

Den ersten Supermarkt in Deutschland gab es 1957 in Köln. Nach amerikanischem Vorbild soll es der erste Supermarkt gewesen sein. Es soll, ich habe da nachgelesen, auch noch andere Supermärkte schon früher gegeben haben. Aber dieser war der erste, der auf 1000 Quadratmetern dieses Selbstbedienungskonzept angeboten hat. Und dieses Selbstbedienungskonzept spielt einfach auch mit in den Wohlstand rein, dass ich selber die Möglichkeit habe, mir das alles auszusuchen und dass ich nicht mehr so viel Zeit da vergeuden möchte, um einfach bedient zu werden, sondern ich kann meine Zeit dann wieder für andere Dinge verwenden. Ich kann schnell da durch den Supermarkt durch, meine Sachen zusammensuchen und es ist dann vielleicht sogar noch günstiger als in einem nicht-Selbstbedienungsladen.

Und so lernen die Verbraucher·innen, die Lebensmittel nur noch verpackt oder an einer Frischetheke kennen in einem Supermarkt. Und dadurch beginnt diese Entfremdung zwischen dem Produkt und der Herkunft des Produkts. Das heißt die Kunden, die Verbraucher, die sehen nur noch diese abgepackte Milch und darauf ist vielleicht noch ein Bild von der Kuh. Aber sie kommen mit der Kuh selbst nicht mehr in Kontakt.

Das wird natürlich schon eingeleitet durch den Milchkaufmann, wenn er dann sein eigenes Geschäft hat, dass der Handel sich zwischen den Erzeuger und den Verbraucher stellt. Aber jetzt ist es noch mal ein Stück weiter, weil es jetzt noch anonymer wird. Man steht einfach nur noch vor diesem Kühlregal und überlegt sich: Welche Packung Milch nehme ich denn? Und das Bewusstsein dafür, wo das jetzt eigentlich herkommt, ist völlig abhandengekommen.

Das heißt, das ist der erste Schritt in diese Richtung, dass die Kuhmilch ein Grundnahrungsmittel wird, denn sie ist jetzt zum einen vorhanden in großer Menge, denn es fließt ja ganz viel Geld in die Milchbauern, dass sie sich spezialisieren und Milchbauern werden, dass sie ihren Betrieb weiter technisieren und ausbauen. Damit machen sie Schulden und müssen dann einfach weitergehen. Sie werden dazu angehalten, immer mehr Kühe zu halten und dann immer mehr Milch zu produzieren, um dann dementsprechend natürlich mehr Geld zu verdienen, aber auch die Bevölkerung stetig mit mehr Milch zu versorgen. Und das wird durch die Subventionierung erreicht.

Und der Verbraucher sieht jetzt nur noch die Milch im Kühlregal und die Milch ist nun ausreichend vorhanden und er oder sie hat das Geld um diese Milch zu kaufen. Das heißt die Milch wird jetzt auch immer günstiger, weil sie ja so ausreichend vorhanden ist und es günstig ist, sie einfach so im Handel zu verkaufen. Es ist ein Massenprodukt geworden und das ist jetzt der Anfang.

Jetzt kommen wir in diese Phase rein, wo das normal wird mit der Milch und wo es immer mehr gibt und immer mehr Arten von Milch und sie immer günstiger werden. Jetzt fängt es an, es wird noch mal richtig viel mehr nach der Wende. Aber jetzt ist der Anfang. Jetzt ist der Beginn.

Und diese Entfremdung, der Wirtschaftswachstum, diese ganze Entwicklung hin zur Technisierung, alles spielt zusammen, alles greift zusammen. Es sind diese verschiedenen Faktoren, die jetzt zusammengreifen. Jetzt - nicht vor 200 Jahren oder vor 500 Jahren oder schon vor 10.000 Jahren - sondern jetzt in den 60er, 70er Jahren. Wirtschaftswachstum, Wohlstand, geringe Arbeitslosigkeit, hohe Vollbeschäftigung. Und dann die Milchwirtschaft.

Die Milchbetriebe, die subventioniert werden, ausgebaut werden, viel Milch produzieren und die Supermärkte, die jetzt dazwischen stehen und günstig die Milch in rauen Mengen anbieten können, wo dann auch die Butter immer günstiger wird, wo alle Milchprodukte immer günstiger werden.

Bis in die 1970 er Jahre hinein, war die Butter noch ein Luxusprodukt. Aber dann ging es bergab, denn dann ging es mit den Supermärkten wirklich in dieser Preisspirale immer weiter runter und es musste alles günstiger sein und die ganzen Lebensmittel mussten unter anderem auch deswegen günstiger sein, damit die Menschen sich viele andere Dinge leisten konnten, damit sie Geld für andere Konsumgüter hatten.

Und das ist so dieses perfide an der ganzen Sache, dass es wirklich einfach die ganze Zeit um Wirtschaftswachstum geht. Die Gesundheit, ja, die wird immer so mit eingeflochten, es ist so gesund, es ist so wichtig und du musst unbedingt Milch trinken, sonst bleibst du nicht gesund. Aber es ist eigentlich alles nur Wirtschaftswachstum. Es geht nur darum, dass Westdeutschland wirtschaftlich gut dasteht, dass unser Lebensstandard hoch ist. Aber aufgrund von was?

Und das sind jetzt die 1960er, 70er Jahre. Wie ich schon ganz am Anfang zitiert hatte, geht es dann 1975, 1980 mit der Arbeitslosigkeit wieder los, dass die Arbeitslosigkeit steigt, dass es wieder Krisen gibt und der Lebensstandard dann nicht mehr so hoch bleiben kann. Und darüber möchte ich dann in der nächsten Folge reden. Und ich freue mich, wenn du beim nächsten Mal wieder mit dabei bist.

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Quellen

Einen großen Teil meiner Informationen beziehe ich aus der Bibliothek der ehemaligen Milchforschungsanstalt in Kiel.

Max Rubner-Institut
Hermann-Weigmann-Str. 1
24103 Kiel

Webseite

Diese Bibliothek beherbergt einen wahren Schatz an Dokumenten zur Milchwissenschaft und direkt gegenüber ist auch noch der Unverpacktladen- sehr praktisch :-)

Weitere Quellen

ROLLINGER, Maria, 2013: Milch besser nicht. 5. Auflage Trier: JOU-Verlag | Meine Rezension zum Anhören.

Die Milch : Geschichte und Zukunft eines Lebensmittels / hrsg. im Auftr. der Stiftung Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum von Helmut Ottenjann ... [Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum], Cloppenburg : Museumsdorf Cloppenburg, 1996.

FINK-KEßLER, Andrea, 2013: Milch - Vom Mythos zur Massenware. 1. Auflage München: oekom

HAHN, Christian Diederich, 1972: Vom Pfennigartikel zum Milliardenobjekt - 100 Jahre Milchwirtschaft in Deutschland. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann OHG

SCHWERDTFEGER, Curt, 1956: Milch, Wunder der Schöpfung, Quelle der Gesundheit : Ein dokumentar. Bildwerk über d. Milch u.d. Milcherzeugnisse. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann

WIEGELMANN, Günter, 1986: Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung. 2. Aufl. Münster: F. Coppenrath Verlag

BROCKS, Christine, 1997: Die Kuh - die Milch : eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden

Grafes Handbuch der organischen Warenkunde, Vol. 5 Halbbd. 1 (ab S. 306)
http://resolver.sub.uni-hamburg.de/goobi/PPN832533432

Lebendiges Museum online: http://www.dhm.de/lemo