Folge 4 - Milchpantscherei und Abstinenz
Ein Beitrag
In dieser Folge
- widmen wir uns dem großen Thema der Milchverfälschung,
- beleuchte ich die Hindernisse der Milchwirtschaft aus verschiedenen Blickwinkeln und
- erkläre ich Dir, wie der Milchzauber bis in das 19. Jahrhundert hinein wirkt.
In dieser Folge gehe ich ein wenig mehr in die Tiefe, damit die Grundmotivation der Milchwirtschaft deutlicher wird.
Generell möchte ich in den ersten Folgen einen möglichst gerafften, geschichtlichen Überblick geben und dann in späteren Folgen einzelne Aspekte noch einmal detaillerter herausgreifen.
In dieser Folge streife ich daher einige Themen, zu denen ich später noch längere Geschichten erzählen werde.
Transkript
Schön, dass du wieder dabei bist bei Milchgeschichten, dem Podcast rund um die Kuhmilch. In dieser Folge möchte ich noch einmal anknüpfen an die Milchverfälschungen, die Milchpantschereien, über die ich in der letzten Folge gesprochen habe und dir ein bisschen erzählen, wie es denn jetzt weiterging von dem Zeitpunkt an, als die Milchwirtschaft tatsächlich ihren Ursprung hatte und richtig ins Rollen kam, bis hin zum Ersten Weltkrieg.
Dazu zitiere ich aus „Unsere tägliche Kost“: ‚Schon 1847 schrieb Josef von Schreibers als einer der frühesten Milchexperten, bei einem Produkt, welches in so großer Menge konsumiert wird, unentbehrlich ist und dennoch nicht aus zu großer Ferne dem Konsumptionsplatz zugeführt werden kann, ist ein steter Absatz und ein annehmlicher Preis gesichert. Allein dieser Umstand verleitet nicht selten die Habsucht und sträfliche Begierde nach größerem Gewinn, die Menge oder die Güte der Milch durch Fälschungen verschiedenste Art zu erhöhen. Die Fälschungen werden leider tatsächlich ausgeübt.‘ Das war ein Zitat von Josef von Schreibers und dann geht es hier im Text weiter mit: ‚Die Milchpantscherei war mit anderen Worten die Regel und erklärt, warum sich an manchen Orten städtische Behörden dem Verkauf insbesondere der Magermilch widersetzten und diese in einfachen Haushalten so wenig beliebt war, dass man sie selbst im Ersten Weltkrieg trotz allgemeinen Lebensmittelmangels lieber den Schweinen als Futter gab.
Wie man den verschiedenen Quellen entnehmen kann, wurde die Milch bewusst durch Magermilch oder mit purem Wasser verdünnt und zur Wiederherstellung der Konsistenz mit Mehl und Zucker, aber auch mit Hirn, Gummi oder Leimen angereichert. Zur Verzögerung der Milchsäuregärung dienten Soda, Doppeltkohlensaures Natron, Bohrsäure und Wasserstoff Superoxid. Dazu kamen die zahlreichen Möglichkeiten der achtlosen Verschmutzung.
Schreibers hielt 1847 den Hinweis für notwendig, dass die Stellen, worauf sich die Milchgefäße, der Rahmen oder die Butter befinden sollten, den Ratten, Mäusen, Kröten und anderen Reptilien unzugänglich gemacht werden sollten. Noch um die Jahrhundertwende geschah es bei einem Kursus für angehende Milchwirte, dass die Teilnehmer bei einer Milchprobe erklärten, der Milch fehlte etwas. Als der Kursusleiter ihr etwas Stallstroh zusetzte, fand man, dass sie nun den richtigen Geschmack habe.
Bei den mangelnden hygienischen Einrichtungen war es alltäglich, dass die Milch gleich nach dem Melken mit allerlei Fremdstoffen verunreinigt wurde. Auf dem Transport zur Molkerei wurde nicht sorgsamer umgegangen. Dazu kam das häufige Umfüllen. Es wäre wünschenswert, forderte ein Ernährungsfachmann 1917, der Milch ein Merkzeichen abzugewinnen, das überall und von jedem beobachtet den unveränderlichen, ursprünglichen Zustand der Milch erkennen ließe. Der Gedanke an besondere Gütezeichen, wie sie heute vielfacher in der Lebensmittelindustrie verwendet werden, war damit erstmals ausgesprochen.‘
Soweit zunächst das Zitat aus „Unsere tägliche Kost“. Einheitliche Standards sind bei einem Produkt wie Kuhmilch eigentlich gar nicht möglich. Denn wenn wir mal darüber nachdenken, hängt die Beschaffenheit der Milch ganz stark davon ab, wie die Kuh gefüttert wurde, wie sie gehalten wird und auch in welcher Jahreszeit sie gemolken wurde. Und dann muss man natürlich noch dazu bedenken, dass man ja nicht die Milch von einer einzigen Kuh bekommen hat, wo man dann sagen könnte, okay, die ist so und so gefüttert worden, so und so gehalten und im Winter gemolken, sondern das war ja immer die Mischung von dem Gemelk vieler, vieler Kühe. Und so ist auch heute ein Standard eigentlich gar nicht möglich. Es ist dann ein künstlicher Standard, der durch die Molkereien hergestellt wird und nicht das, was als Rohmilch angeliefert wird, sondern die Milch wird so weit bearbeitet, dass daraus ein Standard entstehen kann, der aber immer noch durch die Rohmilch beeinflusst wird. Und wenn die Kuh dann eine Euterentzündung hat und Eiterbakterien auf verschiedenen Weg in die Milch geraten sind, dann werden sie ihren Weg auch in das Endprodukt finden.
Um 1900 herum war also Milchpantscherei noch an der Tagesordnung und verhinderte laut den damals führenden Experten auch den Siegeszug der Milch, da das Vertrauen der Konsumenten natürlich gebrochen war, wenn sie dann eine verfälschte Milch bekommen hatten.
Warum gab es denn jetzt überhaupt Milchpantscherei? Und auch dazu findet sich ein Abschnitt in dem Buch „Unsere tägliche Kost“ und den möchte ich hier einmal zitieren: ‚Damit der Händler, hier ist der städtische Milchhändler gemeint, seine Kunden nicht verloren, muss der oftmals zinslosen Kredit über längere Zeit einräumen. Auch die besseren Stände ließen aus alter Gewohnheit anschreiben, sodass der meist von der Hand in den Mund lebenden Milchmann bei der säumigen Zahlungsweise oft in Liquidationsschwierigkeiten geraten konnte. Neue Milchgeschäfte versuchten zudem oftmals mit Schleuderpreisen die Konkurrenz zu unterbieten, um sich auf diese Weise einen ersten Kundenstamm zu sichern. So ist der Zwang zur Unredlichkeit die fast unausbleibliche Folge, stellt eine Untersuchung hierzu fest.
Die vielfache Milchpantscherei findet hier hauptsächlich ihre Erklärung. Noch gab es kaum Mittel Milchverfälschung aufzudecken bzw. gesetzliche Handhaben zur regelmäßigen Kontrolle. Die Milchverfälschung wurde auch dadurch begünstigt, dass es den meisten Hausfrauen mehr auf die Menge als auf die Güte der Milch ankam. Einer der untersuchenden Wissenschaftler wurde dadurch zu dem anklagenden Satz veranlasst, wenn man der Milch nur dieselbe Sorgfalt zukommen lassen mochte wie dem Bier, dann wäre schon ein großer Schritt vorwärts getan.‘
Und das ist auch eine super Überleitung zu einem anderen Thema dieser Zeit. Und zwar gab es um die Jahrhundertwende, um 1900 herum verschiedene Bewegungen. Es gab ab 1890 die bürgerliche Lebensreformbewegung, die versucht hat die Milch in die Gesellschaft zu integrieren. Und es gab auch Bemühungen den Alkoholkonsum der Bevölkerung einzudämmen. Statt Bier sollte Milch ausgeschenkt werden und so entstanden die ersten Milchausschankstellen im Westen Deutschlands, die sich dann im Laufe der Jahre in ganz Deutschland ausbreiteten.
Als Zielgruppe hatten sich die gemeinnützigen Vereine, die hinter der Initiative steckten, die Arbeiter auserkoren, obwohl der Alkohol natürlich auch in anderen Gesellschaftsschichten reichlich floss. Das Motiv war wieder die Volksgesundheit, da die schädliche Wirkung des Alkoholkonsums erkannt worden war. Statt Bier und Schnapsständen gab es nun also Milchpavillions und unter dem Deckmantel der Volksgesundheit versuchten Abstinenzler Vereinigungen und Mäßigungsbewegungen den Arbeiter zur Pflicht zu rufen. Alkoholkonsum sei keine Privatsache, es schädige nicht nur die eigene Gesundheit, sondern durch den Ausfall der Arbeitskraft auch die gesamte Gesellschaft. Mit dem ersten Weltkrieg pausierte dieses Konzept und versandete dann in den Jahren zwischen den Weltkriegen vollends.
Was ich hier besonders spannend finde, ist das Motiv, das auch in den Folgejahren und Jahrzehnten bis heute immer weiter wieder auftauchen wird, nämlich dieser wirtschaftliche Faktor. Hier ist es das Motiv, dem Arbeiter nicht nur aus gesundheitlichen Gründen zu helfen, sondern dahinter stecken das Motiv, dass der Arbeiter ja dem Vaterland dienen soll und dass er der Wirtschaft, dem Wirtschaftswachstum des damals noch Deutschen Reichs schaden würde. Vordergründig ist es also die Gesundheit des Arbeiters und hintergründig ist es aber die Wirtschaft.
Und dieses Motiv zieht sich wirklich durch die ganze Zeit bis heute hin. Vordergründig immer die Volksgesundheit, die hochgehalten wird und hintergründig ist es eigentlich die Volkswirtschaft, um die man sich kümmern möchte. Denn wie ich schon in den vorangegangenen Folgen gesagt habe, ist es wirklich wichtig, für die Milchwirtschaft jetzt an Größe zu gewinnen und als Wirtschaftsfaktor für das aufstrebende Deutschland zu gelten. Und es ist eben nicht nur ein Wirtschaftsfaktor in Deutschland, sondern auch auf der ganzen Welt breitet es sich aus. Aber ich konzentriere mich hier eben nur auf Deutschland.
Also waren die Milchverfälschung, die Milchpanscherei und der hohe Alkoholkonsum, die Abneigung der Erwachsenen und vor allem der breiten Bevölkerungsschicht Milch zu trinken, alles Faktoren, die eine schnelle Verbreitung der Milch in der Bevölkerung in Deutschland verhindert haben. Ein weiterer Faktor war vor allem auch, dass Milch und Milchprodukte immer noch sehr teuer waren und mit der Industrialisierung kam auch die Massenarmut. In den 1840er Jahren lautete der Schlachtruf „Überwindung des Pauperismus“. Pauperismus bedeutet Massenarmut und in die Geschichte ist diese Situation als soziale Frage eingegangen, die immer noch geklärt werden musste, die immer noch im Raum stand und die massiven sozialen Probleme bezeichnete, die mit der Industrialisierung einhergegangen.
In den ersten knapp 100 Jahren der Industrialisierung musste eine Familie bis zu 70 Prozent des Lohns für Essen bezahlen. Sie ernährten sich damals hauptsächlich von Kartoffeln und Brot und auch noch um 1900 herum gab es noch deutliche Standesunterschiede und vor allem die höher gestellten Schichten griffen damals zu Milch, weil sie durch die Bildung davon erfahren hatten, dass sie gesünder sein sollte und die meisten Menschen, die damals in Deutschland lebten, gehörten eben nicht zu den höheren gebildeten Schichten, sodass die Masse einfach noch nichts davon erfahren hatte und die Milch schlichtweg verweigerte.
Die negative Einstellung der Erwachsenen gegenüber Milch und das tradierte Nichttrinken der Milch ist auf jeden Fall auch in der Vergangenheit begründet. Dazu möchte ich aus Maria Rollingers Buch „Milch besser nicht“ einige Absätze zitieren:
‘Trotz der positiven mythologischen Seite braucht es lange bis Milch und Milchprodukte zudem werden konnten, was sie heute sind. Zusätzlich zu grundsätzlich negativen Einstellungen medizinischer Autoritäten war Milch in den europäischen mittelalterlichen Agrargesellschaften mit vielen Tabus besetzt, denn als Urnahrung haftete ihr ein Machtaspekt an, der auch zum Schaden von Menschen eingesetzt werden konnte.
Milch wurde als eine Flüssigkeit angesehen, die mit dem Blut aus ein und derselben körperlichen Quelle stammte. Daher rührt die Vorstellung, dass wer Macht über Milch hatte, sie auch über Blut und damit über Leben und Tod hatte. Da Milch wie Menstruationsblut weiblich ist, wurden manche Frauen im negativen Sinn als Milchhexen angesehen, die scheinbar nicht nur Milch und Kühe verhexten, sondern auch allerlei anderen Schadenszauber anrichteten. In den Hexenverfolgungen spielte dies eine große Rolle.
Als tierische und weibliche Körperflüssigkeit mit Verbindungen zu Zauber und übernatürlichen Kräften, fanden viele die Milch generell problematisch und tabuisiert. Mit Überwindung dieser Vorstellungen in der Neuzeit veränderte sich auch langsam das Verhältnis zur Milch. Auch wenn man im 19. Jahrhundert über mittelalterliche Vorstellungen hinaus war, blieb ein grundsätzlicher physischer Ekel vor der frischen Milch erhalten. Zumindest beim Melken kam der abstoßende, ekelerregende Aspekt einer tierischen Körperflüssigkeit bei vielen Menschen zum Tragen. Milch war schon deshalb tabu, sie war eine Flüssigkeit, die viele Menschen nicht ohne weiteres unverarbeitet zu sich nahmen.
Erst der industrielle Gewinnungs- und Verarbeitungsprozess hat die nötige Distanz geschaffen, die diese tierische Körperflüssigkeit für Menschen erträglich und akzeptabel machte. Die Kenntnis vom Ekel gegenüber der Milch ist heute fast völlig verschwunden, ja sie ist unbekannt, da unnötig geworden. Aber dazu braucht es Zeit und die technologischen Veränderungen, die mit dem Verschwinden der Agrargesellschaft einhergingen. Noch vor 100 Jahren musste die Milch, um als modern zu gelten, gegen die negativen bäuerlichen Vorbehalte durchgesetzt werden. Die Beziehung gerade der ärmeren Schichten zur agrarischen Produktion war noch lebendig.‘
Soweit Maria Rollinger. Das heißt es gab damals noch keinen hohen Milchkonsum. Es gab Bemühungen, die Milch auch an ärmere Menschen günstiger abzugeben, dazu hätte man sich aber ein Berechtigungsschein holen müssen und niemand wollte damals wirklich bedürftig erscheinen, denn das roch dann zu sehr nach Armensuppe und Armenhaus und diese Blöße wollte sich keiner geben und deswegen wurden diese Angebote nicht in Anspruch genommen. So dass es also um 1900 herum immer noch keinen wirklich hohen Milchkonsum gab und wenn es Milchkonsum gab dann nur in den höheren gebildeten Schichten, die eben nur einen Bruchteil der Bevölkerung ausmachten.
Parallel entwickelten sich die technischen Neuerungen immer weiter. 1900 wurde bereits die Dauerpasteurisierung entwickelt. Es gab immer mehr Molkereigenossenschaften in Deutschland und es gab eigentlich immer mehr Erfindungen rund um die Kuhmilch, die aber erst mal an dem generellen Absatz der Milch nichts geändert haben. Und wie sich die Milchwirtschaft im Ersten Weltkrieg weiterentwickelte, davon hörst du dann in der nächsten Folge und ich freue mich wenn du dann wieder dabei bist.
Quellen
Einen großen Teil meiner Informationen beziehe ich aus der Bibliothek der ehemaligen Milchforschungsanstalt in Kiel.
Max Rubner-Institut
Hermann-Weigmann-Str. 1
24103 Kiel
Diese Bibliothek beherbergt einen wahren Schatz an Dokumenten zur Milchwissenschaft und direkt gegenüber ist auch noch der Unverpacktladen- sehr praktisch :-)
Weitere Quellen
ROLLINGER, Maria, 2013: Milch besser nicht. 5. Auflage Trier: JOU-Verlag | Meine Rezension zum Anhören.
Die Milch : Geschichte und Zukunft eines Lebensmittels / hrsg. im Auftr. der Stiftung Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum von Helmut Ottenjann ... [Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum], Cloppenburg : Museumsdorf Cloppenburg, 1996.
FINK-KEßLER, Andrea, 2013: Milch - Vom Mythos zur Massenware. 1. Auflage München: oekom
HAHN, Christian Diederich, 1972: Vom Pfennigartikel zum Milliardenobjekt - 100 Jahre Milchwirtschaft in Deutschland. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann OHG
SCHWERDTFEGER, Curt, 1956: Milch, Wunder der Schöpfung, Quelle der Gesundheit : Ein dokumentar. Bildwerk über d. Milch u.d. Milcherzeugnisse. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann
WIEGELMANN, Günter, 1986: Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung. 2. Aufl. Münster: F. Coppenrath Verlag
BROCKS, Christine, 1997: Die Kuh - die Milch : eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden
Grafes Handbuch der organischen Warenkunde, Vol. 5 Halbbd. 1 (ab S. 306)
http://resolver.sub.uni-hamburg.de/goobi/PPN832533432
Lebendiges Museum online: http://www.dhm.de/lemo