Folge 5 - Die Milchkuh im ersten Weltkrieg
Ein Beitrag
In dieser Folge
- geht es um die Verhältnisse im ersten Weltkrieg,
- berichte ich Dir von Milchrationierung und dem Steckrübenwinter und
- stelle ich Dir meine Theorie des Mangels vor, der bis heute nachwirkt.
Manche Historiker unterscheiden gar nicht zwischen dem ersten und zweiten Weltkrieg, sondern nennen beide Kriege zusammen als den zweiten 30-jährigen Krieg.
Was die Milchwirtschaft angeht, macht es auf jeden Fall Sinn jede Epoche einzeln zu untersuchen, weil jede Zeit ihre eigenen Auswirkungen hatte.
Und so war es im ersten Weltkrieg vor allem zunächst der Mangel an Lebensmitteln und damit auch an Milch, der diese Jahre geprägt hat.
Transkript
Schön, dass du wieder dabei bist bei Milchgeschichten, dem Podcast rund um die Kuhmilch.
In den letzten Folgen habe ich dir jetzt von der Milchkuh im Mittelalter erzählt, der Milchkuh ab 1870 in den Gründerjahren der Milchwirtschaft und in dieser Folge geht es um die Milchkuh im Ersten Weltkrieg.
Noch einmal ein kurzer Rückblick, nachdem ja nun seit 1870 eigentlich seit dem Kaiserreich, seit bestehen des Kaiserreichs die Milchwirtschaft kontinuierlich weiter aufgebaut worden ist, die züchterischen Erfolge immer besser wurden und auch die Melkmaschinen immer weiterentwickelt wurden, war der Erste Weltkrieg ein herber Rückschlag. Alles, was bisher aufgebaut worden war, wurde durch den Krieg zurückgedrängt, vieles wurde zerstört, das Wissen ging nicht verloren, aber es musste danach einiges wieder aufgebaut werden und zunächst waren dann auch die Mittel nicht da.
Aber ich will jetzt nicht vorausgreifen, denn ich möchte hier chronologisch vorgehen und je nachdem welchen Text ich lese und je nachdem welcher Quelle ich folge, scheint es manchmal so, als würde es gar keinen Krieg geben, als würde es auch gar keine politischen Strömungen geben, gar keine Umwälzungen, als würde einfach diese Milchwirtschaft kontinuierlich sich weiterentwickeln und als würde es gar nicht diese Kriege wie 1870/1871 geben und auch nicht diesen Ersten Weltkrieg und den zweiten, sondern als würden alle Menschen immer zu den gleichen Bedingungen weiterleben und deswegen finde ich es eben so wichtig, diese Geschichte mit einzubeziehen, also unsere Geschichte, die Historie unseres Landes, die Sozialgeschichte und auch genau hinzuschauen, wie ging es den Menschen da, wie ging es den Tieren da und sich das zu vergegenwärtigen.
Im Ersten Weltkrieg war Mangel allgegenwärtig, man hatte sich verschätzt, die Vorräte waren schnell aufgebraucht und Nachschub kaum zu bekommen. Man hatte gedacht, der Krieg würde höchstens ein paar Wochen dauern und ja, wir haben das alles in den Geschichtsbüchern gelesen, in der Schule gelernt, das war wirklich eine Fehleinschätzung, es war ein nichtiger Auslöser, es war damals eine Zeit, in der gedacht wurde, es muss Krieg geführt werden und alle Länder haben irgendwie nach Macht gestrebt, es gab einfach ganz andere politische Verwicklungen und die Menschen in Deutschland haben sich darüber definiert, wie groß das deutsche Reich ist, wie groß das Kaiserreich ist und wie viel Macht jetzt die einzelnen Länder haben und Deutschland hat sich unterlegen gefühlt gegenüber Frankreich und England, die ja beide viele, viele Kolonien hatten und so hat der Kaiser versucht seinem Kaiserreich zu der allumfassenden Macht zu verhelfen, zur Weltherrschaft quasi, etwas was dann später durch Hitler weitergeführt wurde.
Ich lese gerade ein Buch zum Ersten Weltkrieg, das hat mir Carsten aus der Bücherhalle mitgebracht, ich wäre sonst nie darauf gekommen, das ist eigentlich für Schüler und Schülerinnen geschrieben, das heißt „Mein Opa, sein Holzbein und der große Krieg, was der erste Weltkrieg mit uns zu tun hat“ und es ist wirklich sehr gut geschrieben und ich finde es eben auch spannend, wie da drin beschrieben wird, wie die Menschen damals getickt haben, also was deren Einstellung war und wie sie die Welt gesehen haben, wie wir heute damit leben. Es ist ein sehr interessanter Einblick in das soziale Leben damals und ich werde auf jeden Fall auch da nochmal in anderen Folgen darauf zurückkommen, aber in dieser Folge möchte ich jetzt erst einmal einen Überblick geben.
Die Regierung verordnete eine Zwangsbewirtschaftung, die erst am 6. Juni 1924 endete, also weit nach dem Ersten Weltkrieg und das Vorgehen war dabei alles andere als zielgerichtet und orientierte sich ausschließlich an den Bedürfnissen des Heeres. Zum Ende des Krieges war die deutsche Bevölkerung müde und ausgelaugt, Hunger war normal, Mangelernährung an der Tagesordnung, etwa 700.000 Menschen starben während des Krieges an Hunger und Unterernährung. Zustände, die wir uns heute, wenn wir vor dem Supermarktregal stehen und uns für eine Sorte Käse oder Joghurt entscheiden sollen, nicht mehr vorstellen können.
Ich möchte dazu noch einige Textpassagen zitieren, und zwar gibt es online das „Lebendige Museum online“ abgekürzt LEMO, das ist wirklich eine ganz tolle Quelle, um sich über unsere Geschichte in Deutschland zu informieren. Ich schaue da auch ganz gerne immer wieder rein, weil es ganz viel Infomaterial gibt, das wirklich schön aufbereitet ist und man sich schnell da einen Überblick verschaffen kann. Und jetzt möchte ich erst einmal eine kleine Passage zum Thema Rationierung der Milchversorgung vorlesen.
„Im November 1915 wurde im Rahmen der allgemeinen Lebensmittelrationierung die reichsumfassende Bewirtschaftung von Milch eingeführt, nachdem bereits im September ein Verbot der Verwendung von Milch und Sahne zum Backen von Kuchen verfügt worden war. Die entsprechende Verordnung vom 11. November schrieb vor, dass Kinder bis zum vollendeten zweiten Lebensjahr und stille Mütter je ein Liter, ältere Kinder einen halben Liter und kranke eine Menge bis zu einem Liter Milch auf ärztliche Bescheinigung pro Tag erhalten sollten. Zugleich wurde jedoch eingeräumt, dass die Ration beginnend bei den älteren Kindern entsprechend herabgesetzt werden kann, wenn die erforderliche Menge Milch nicht zur Verfügung steht.“
Es gab damals eine Reichsfettstelle, die den Tagesbedarf einer jeden Stadt errechnete und dementsprechend dann eine Milchmenge verordnete. Und da es aber einfach diese Milchknappheit gab im Ersten Weltkrieg, wurde dann diese Tagesmenge immer weiter herabgesetzt, sodass zum Ende des Ersten Weltkriegs kaum noch Milch zur Verfügung stand und das eben für die als bedürftig gekennzeichnet, für die anderen stand es gar nicht mehr zur Verfügung. Und es ist ja nur logisch, denn während des Ersten Weltkriegs war natürlich auch die Futterversorgung der Milchkühe kaum noch möglich. Und es war nicht gestattet, das Getreide, was man eigentlich für Brot nutzen konnte, jetzt an Tiere zu verfüttern oder die Tiere auf die Weide zu bringen, dann mussten die Tiere notgeschlachtet werden.
Und so gab es natürlicherweise, weil die Milchkühe nicht mehr gefüttert werden konnten, viel weniger Milchkühe und dementsprechend weniger Milch, dementsprechend weniger Butter. Allerdings war es eben auch so, dass aufgrund der vielen Importe, die sich jetzt schon seit dem Kaiserreich, also seit 1871 entwickelt hatten, d.h. durch den Ersten Weltkrieg und die ganzen Blockaden, die herrschen, wurde das deutsche Reich einfach abgeschnitten und es gab kaum noch Möglichkeiten, sich selbst zu versorgen. Und so kam es auch 1916/1917 zu dem sogenannten Steckrüben- oder Kohlrübenwinter, wozu ich auch noch einmal gerne aus dem „Lebendigen Museum Online“ LEMO zitieren möchte.
“Der Arzt Alfred Grothian notierte am 17. März 1916 über die Folge der Unterernährung in sein Tagebuch: Die Berliner Bevölkerung bekommt Woche zu Woche mehr ein mongolisches Aussehen. Die Backenknochen treten hervor und die entfettete Haut legt sich in Falten. Noch dramatischere Ausmaße nahmen Hunger und Not in dem sogenannten Kohl- bzw. Steckrübenwinter 1916/1917 an, als aufgrund schlechter Ernte selbst Kartoffeln als Grundnahrungsmittel zur Versorgung der Bevölkerung ausfielen und durch Steckrüben ersetzt werden mussten. Lag der Durchschnittsverbrauch eines Erwachsenen 1913 bei rund 3.000 Kalorien am Tag, so viel die Zufuhr 1917 meist unter 1.000 Kalorien. Die Allgemeinsterblichkeit steigt jetzt stark. Langsam aber sicher gleiten wir in eine zurzeit allerdings noch wohl organisierte Hungersnot hinein, bemerkte Grothian am 20. Februar 1917.
Trotzdem kamen die Ausmaße des Hungerwinters 1916/1917 unerwartet und zermürbten die physische Widerstandskraft der Bevölkerung. Der gravierende Mangel an landwirtschaftlichen Arbeitskräften, an Kunstdünger und Zugtieren ließ auch die Getreideernte 1917 auf die Hälfte eines normalen Ertrags sinken.“
Was ich so spannend daran finde, ist, dass es wirklich jetzt erst 100 Jahre her ist, dass das passiert ist und dass es danach zwar langsam wieder bergauf ging, in der Nazizeit war die Versorgung einfach besser, aber dann kam der Zweite Weltkrieg und dann wurde wieder der Mangel allgegenwärtig und in der Nachkriegszeit waren wir in einer ähnlichen Lage. Nicht ganz so schlimm, aber doch in einer ähnlichen Lage.
Und so haben unsere Urgroßeltern oder Großeltern diesen Hunger, diesen Mangel noch miterlebt. Er steckt ihn quasi in den Knochen und diese Erfahrungen haben sie an uns weitergegeben und für mich ist es so ein bisschen auch die Erklärung für diese Angst vor der veganen Ernährung, dieser Angst vor dem Mangel, dass wir dieses Gefühl haben, okay, nur Steckrüben, das kann ja nichts werden, dass diese Angst klar, es gab einfach diese lebensbedrohlichen Situationen vor 100 Jahren natürlich auch schon vorher, aber vor 100 Jahren und dann in den Kriegen, nach den Kriegen, in der Nachkriegszeit und es ist alles noch gar nicht lange her.
Und jetzt kommen diese komischen Veganer und Veganerinnen und sagen, hey, du kannst mit einer pflanzenbasierten Ernährung völlig unproblematisch ohne irgendeinen Mangel überleben und du kannst damit sogar gut leben und du kannst damit fit sein und du kannst damit einfach ein hohes Alter erreichen und ganz toll leben! Da geht dann automatisch die Abwehr an: „Oh nee, pflanzenbasierte Ernährung, da fehlt doch was, es muss diese tierischen Fette, es muss diese tierischen Eiweiße geben, es kann einfach nicht ohne gehen“ und dieses Mangeldenken, dieses Gefühl, es kann einfach nicht ohnegehen, das habe ich mir jetzt so erklärt, dass es wirklich auch von da stammt aus diesen Erfahrungen, die unsere Vorfahren, unsere direkten Vorfahren in dieser Zeit gemacht haben.
Und die sie uns mitgegeben haben, die sie überliefert haben und die jetzt noch mit in den Verordnungen der DGE mit drinstecken, das ist alles für mich da mit drin, also es liegt alles begründet in dieser historischen Ansicht, in diesen historischen Erfahrungen, dass wir sagen, wir brauchen unbedingt diese tierischen Fette, diese tierischen Eiweiße, wir brauchen es unbedingt um zu überleben, denn seht doch, was passiert ist damals, als es nur Steckrüben gab, seht doch, was passiert ist, als es wirklich kaum noch Milch gab, da sind die Mütter gestorben, da sind die Säuglinge gestorben, aber dass es eben einfach noch mehr Zusammenhänge gibt, das will keiner sehen.
Dass wir ja heute in einer ganz anderen Zeit leben, wir tragen immer noch diese Erfahrungen mit uns herum und diese Erfahrungen werden uns, wenn wir vegan leben, dann entgegengeschleudert, es kann nicht sein, es kann einfach nicht sein, dass wir pflanzenbasiert ohne Mangel leben können, diese Ängste sind immer noch da und ich bin der Meinung, dass sie wirklich tief verwurzelt sind in diesen Erfahrungen, diesen Hungerjahren, die wirklich da in uns drinstecken durch unsere Vorfahren, durch unsere Großeltern oder Urgroßeltern, je nachdem, wie alt du bist und vielleicht sogar dann Ur-Ur-Großeltern, wer weiß, aber jedenfalls, dass das einfach mit der Grund ist und dass uns das vielleicht auch hilft, uns, sage ich, wenn wir vegan leben, dass uns das hilft, dann auch das Gegenüber zu verstehen und diese Ängste zu verstehen.
In meinem Fall, ganz persönlich, als ich vegetarisch gelebt hab noch, hat meine Oma sich Sorgen gemacht um meine Blutwerte und hat mich gebeten, dass ich doch bitte zum Arzt gehe und meine Blutwerte checken lasse und ich hab's ihr zuliebe getan und da war überhaupt nichts mit meinen Blutwerten, das war alles völlig in Ordnung und ich habe da auch nie darüber nachgedacht, aber sie hatte halt Angst, sie hatte Angst, dass ich ein Mangel erleide und wo kommt es her? Sie hat den Zweiten Weltkrieg miterlebt, sie hat den ersten Weltkrieg nicht in dem Sinne miterlebt, weil sie da gerade erst zum Ende hin geboren wurde, aber den Zweiten Weltkrieg hat sie miterlebt und sie hat diesen Hunger miterlebt und diesen Mangel miterlebt und sie hat all diese Probleme miterlebt und das, wenn sie dann hört, oh, das Kind ist kein Fleisch, dann ist es gleich, oh Gott, diese tierischen Fette, nein, es kann nicht sein, es muss ein Mangel kommen und für mich ist es wirklich ein Grund mit dahin zu schauen und zu sagen, okay, es ist alles nicht so eindimensional, es spielen viele, viele Faktoren hinein und das einfach zu verstehen, wieso reagieren die anderen so, was kommt da zum Vorschein, das ist für mich mit eine Erklärung.
In der nächsten Folge schauen wir uns dann ganz chronologisch die Rolle der Milchkuh in der Weimarer Republik an und ich freue mich, wenn du dann auch wieder dabei bist.
Links zur Folge
Lebendiges Museum online
http://www.dhm.de/lemo/kapitel/erster-weltkrieg
"Mein Opa, sein Holzbein und der Große Krieg" von Nikolaus Nützel
https://www.buch7.de/store/product_details/1021135912
Quellen
Einen großen Teil meiner Informationen beziehe ich aus der Bibliothek der ehemaligen Milchforschungsanstalt in Kiel.
Max Rubner-Institut
Hermann-Weigmann-Str. 1
24103 Kiel
Diese Bibliothek beherbergt einen wahren Schatz an Dokumenten zur Milchwissenschaft und direkt gegenüber ist auch noch der Unverpacktladen- sehr praktisch :-)
Weitere Quellen
ROLLINGER, Maria, 2013: Milch besser nicht. 5. Auflage Trier: JOU-Verlag | Meine Rezension zum Anhören.
Die Milch : Geschichte und Zukunft eines Lebensmittels / hrsg. im Auftr. der Stiftung Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum von Helmut Ottenjann ... [Museumsdorf Cloppenburg, Niedersächsisches Freilichtmuseum], Cloppenburg : Museumsdorf Cloppenburg, 1996.
FINK-KEßLER, Andrea, 2013: Milch - Vom Mythos zur Massenware. 1. Auflage München: oekom
HAHN, Christian Diederich, 1972: Vom Pfennigartikel zum Milliardenobjekt - 100 Jahre Milchwirtschaft in Deutschland. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann OHG
SCHWERDTFEGER, Curt, 1956: Milch, Wunder der Schöpfung, Quelle der Gesundheit : Ein dokumentar. Bildwerk über d. Milch u.d. Milcherzeugnisse. 2. Auflage Hildesheim : Verlag Th. Mann
WIEGELMANN, Günter, 1986: Unsere tägliche Kost. Geschichte und regionale Prägung. 2. Aufl. Münster: F. Coppenrath Verlag
BROCKS, Christine, 1997: Die Kuh - die Milch : eine Publikation des Deutschen Hygiene-Museums Dresden
Grafes Handbuch der organischen Warenkunde, Vol. 5 Halbbd. 1 (ab S. 306)
http://resolver.sub.uni-hamburg.de/goobi/PPN832533432
Lebendiges Museum online: http://www.dhm.de/lemo