Wir brauchen ein neues Bildungssystem

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Folge 164 - Wir brauchen ein neues Bildungssystem

In dieser Folge sprechen wir, inspiriert von unserer Podcasthörerin Amy, über den Film "alphabet" von Erwin Wagenhofer.

Diese Folge ist weit mehr als eine Filmrezension, da wir zu Beginn viel über unserer eigene Erfahrung mit dem Bildungssystem sprechen und dann unsere Eindrücke vom Film einflechten.

Vielleicht fragst Du Dich: Was hat Schule mit vegan zu tun?

Durch den Film habe ich erkannt: unser Bildungssystem ist der Spiegel unserers Wirtschaftssystems und wenn wir aus dem Wirtschaftssystem aussteigen wollen, müssen wir auch das Bildungssystem neu denken, denn: weiter wie bisher geht es nicht.

Der Dokumentarfilm zeigt ganz deutlich wie krank auch unser Bildungssystem ist und welche Gegenentwürfe es dazu schon gibt. Gemeinschaft statt Konkurrenzdenken und Begleiten statt Frontalunterricht sind nur zwei Möglichkeiten, wie wir Schule neu denken können.

Links zur Folge

Der Film "alphabet - Angst oder Liebe" von Erwin Wagenhofer
http://www.alphabet-film.com/

Dokumentation über André Stern
https://www.youtube.com/watch?v=Kgn9LWQqkj0

Schools of Trust
https://schoolsoftrust.com/

Vollständiges Transkript

Stefanie Bist du gern zur Schule gegangen?

Carsten Oh ja. Es war die schönste Zeit meines Lebens.

Stefanie Carsten, antwortest du gerade wie in einem Werbespot? „Das war die schönste Zeit meines Lebens.“ Nee, jetzt mal ehrlich. Bist du gern zur Schule gegangen?

Carsten Nein, eigentlich nicht. Ich habe aber auch keine Aversion gegen die Schule gehabt. Ich habe es einfach irgendwie. Es gibt ja nichts anderes. Es gibt ja keine Alternative. Oder gab es zumindest damals nicht.

Stefanie So habe ich damals auch gedacht und auch bis vor kurzem. Also wenn man das jetzt in Relation zu meinen Lebensjahren sieht, bis vor kurzem. Ich bin überhaupt nicht gern zur Schule gegangen. Ich war zwar eine gute Schülerin, was den Notendurchschnitt anging, aber ich bin nicht gern hingegangen. Ich bin auch auf der weiterführenden Schule sofort in der fünften Klasse von Anbeginn gemobbt worden, weil ich anders war. Und für mich war das „zur Schule gehen“ tatsächlich immer verbunden mit Angst, teilweise auch vor den anderen Schüler·innen und auch mit den Jahren dann mit Unverständnis, warum ich das alles eigentlich lernen muss, was mich überhaupt nicht interessiert hat. Und ich kann mich an die Grundschule nicht mehr so gut erinnern. Auch da waren so Mobbingfälle an der Tagesordnung, aber da kann ich mich wirklich an den Unterricht kaum noch erinnern. Ich weiß nicht. Kannst du dich noch erinnern?

Carsten An die Grundschule? Nur noch ganz, ganz facettenhaft. Da kann ich dir noch nicht mal sagen, ob ich da eine Aversion gespürt habe. Aber ich glaube, ich würde eher sagen, ich habe mich dem gefügt, weil ich ja eigentlich auch keine Alternative hatte. Es war einfach so, aber ich habe das Ganze als sehr frontalunterrichtlastig wahrgenommen und nachher in der Orientierungsstufe, die es zu meiner Zeit noch gab, also fünftes und sechstes Schuljahr, wo dann entschieden wurde, welchen klassischen Schulweg man weiter beschreiten könnte, also Hauptschule, Realschule oder Gymnasium, da setzen eigentlich so die tatsächlich noch vorhandenen Erinnerungen ein. Und das ist noch so ein bisschen geprägt von meiner Aversion gegenüber meines Klassenlehrers, mit dem ich damals nicht klargekommen bin, gegen den ich mich auch ein bisschen aufgelehnt habe, was dann auch dazu geführt hat, dass ich umgesetzt wurde. Das war so diese Züchtigung und Strafe, wenn du nicht willst, so wie ich das möchte, dann wirst du irgendwie anders platziert. Und das hat dazu geführt, dass mein damals bester Freund und ich dann nicht mehr an einem Tisch sitzen durften, sondern wir mussten uns trennen, aber nur im Unterricht.

Stefanie Ja, also ich habe mich immer bemüht sehr gut zu sein in der Schule, bin aber trotzdem oder vielleicht gerade deswegen nicht anerkannt worden. Aber ich war auch schon immer anders. Also was sich ja jetzt darin geäußert hat, dass ich vegan lebe. Ich gehöre zu den anderen. Wobei wir natürlich hoffen, dass das vegan sein irgendwann die Norm ist.

Carsten Und ja, ich bin eigentlich immer so im Mainstream mitgeschwommen. Das war so für mich das Angenehmste. Ich war nie derjenige, der wirklich komplett außen vor gestochen hat, habe aber auch nie das Problem gehabt, in der Schule jetzt eine angemessene Leistung zu bringen. Also ich bin eigentlich ohne Anstrengung durch die Schule durchgegangen und habe einen relativ akzeptablen Notendurchschnitt gehabt. Der war so zwischen zwei und drei. Ich denke mal, wenn ich mich wirklich angestrengt hätte, hätte ich auch nochmal ein bisschen mehr rausholen können. Aber diese Ambition hatte ich ehrlich gesagt nicht. Wobei ich, wenn ich mich jetzt dran erinnere, auch tatsächlich so eine rebellische Phase hatte, wo ich eigentlich keinen Bock hatte. Da haben wir dann angefangen, in der Schule irgendwie Pfennigstücke mit Kleber an die Wände zu kleben, zur Freude des Hausmeisters.

Man muss dazu sagen, der Hausmeister war der Vater meines damals besten Kumpels in der Schule. Was da nicht unbedingt immer zur Zufriedenheit dazu beigetragen hat. Und ich war aber mit einem anderen Kumpel zusammen, der genau diese Klebeaktionen durchgeführt hat. Und es gab damals bei uns im Schulgebäude so schöne Malereien, ich glaube von Walt Disney oder so was, so Donald Duck und Co. Die wurden an die Wand gemalt und wir haben die Pupillen dann mit diesen Pfennigstücken durchgeklebt und andere Schüler·innen haben dann angefangen, diese Pfennigstücke von der Wand abzukratzen mit Spachteln, die wollten das Geld einsammeln, was dann dazu geführt hat, dass der Putz beschädigt wurde. Okay, dreimal darfst du raten, wer nachher diese Verputzarbeiten und das neu malen durchführen durfte als Strafaktion. Das war so die auflehnende Phase, die hat aber, glaube ich, nur ein oder zwei Jahre angehalten und dann war das auch wieder gegessen. Aber ansonsten war Schule für mich einfach. Ich hab's durchgestanden.

Stefanie Und was für mich so maßgebend war, dass ich immer gedacht habe, wie du gerade eingangs sagtest, es gibt keine Alternative. Also vor allem bin ich auch mit diesem Bild aufgewachsen: Kinder, die auf Waldorfschulen gehen, sind sehr komisch. Also Waldorfschulen sind schon mal ganz komisch und die Kinder sind dann natürlich noch komischer. Und ich weiß noch, im Studium war bei mir im Studiengang ein ehemaliger Waldorfschüler und ich habe den immer so angeguckt und gedacht: Ja, was hast du denn schon gelernt? Also wie kannst du denn hier im Studiengang sein, wenn du ein Waldorfschüler warst?

Carsten Ja, Waldorfschulen waren für mich damals noch eigentlich komplett unbekannt. Die gab es bei uns in der Gegend nicht. Vielleicht gab es die, aber ich habe sie nie wahrgenommen. Für mich gab es einfach nur diese klassischen Schulformen Hauptschule, Realschule und Gymnasium. Gymnasium war für mich nicht interessant, weil die meisten meiner Freunde auf der Realschule waren, obwohl ich Gymnasialempfehlungen hatte. In der Orientierungsstufe habe ich mich dagegen entschieden, weil ich da hingegangen bin, wo die Freunde hin wollten, wobei die Freunde nachher auch alle von der Schule abgegangen sind. Aber das spielte keine Rolle. Ich habe dann auf der Realschule andere Freunde gefunden und das war dann auch okay. Aber andere Schulform habe ich so aktiv zu dem Zeitpunkt überhaupt nicht wahrgenommen.

Stefanie Ja, ich glaube, ich weiß es nicht mehr, ob ich damals schon, also als ich noch zur Schule gegangen bin, wusste, dass es Waldorfschulen gibt. Aber nachher, während des Studiums auf jeden Fall. Und ich habe immer gedacht, das ist komisch, wenn Kinder nicht zu einer normalen Schule gehen und es ist doof zur Schule zu gehen, aber du musst zur Schule gehen. Jede·r geht zur Schule, das muss so sein. Du wirst sonst von der Polizei abgeholt oder hingebracht und es gibt keine andere Möglichkeit und es gibt nur dieses: Du musst es durchstehen. Das ist so diese 13 Jahre oder Mittlerweile sind es dann zwölf, die musst du durchstehen, Du musst es irgendwie überstehen und nur so kannst du dann auch wirklich was lernen und nur so kannst du wirklich in der Arbeitswelt dann auch bestehen.

Carsten Ja, das ist tatsächlich so, dieses Durchstehen. Und jetzt fällt es mir auch wieder ein, wo wir drüber sprechen. So kommen die Erinnerungen durch und hoch. Das Schönste waren tatsächlich so diese Freistunden, die habe ich mir teilweise auch erkämpft. Mit 14 ist man ja religionsmündig, glaube ich, heißt das. Das heißt, man kann sich von der getauften Religion lossagen, freikaufen? Tatsächlich, Das hat damals bei uns Geld gekostet. Ich musste beim Meldeamt im Gemeindebüro, ich glaube 15 DM oder 20 DM Gebühr zahlen. Ich bin erst zum Pastor hin und dann wollte ich mich von der Kirche abmelden, bis der mir dann mehr oder weniger entrüstet gesagt hat, dass ich da an der falschen Stelle bin. Dann musste ich zum Einwohnermeldeamt und habe dann da meine 15 oder 20 DM gelatzt, einen Wisch unterschrieben und war ab dem Zeitpunkt nicht mehr konfessionsgebunden und hatte aber, weil ich ursprünglich evangelisch getauft war, dann diesen Freiheitsstatus. Ich war religionsfrei.

Das hat dann in der Schule dazu geführt, dass mir die Frage gestellt wurde: Willst du denn weiterhin am Religionsunterricht teilnehmen, ja oder nein? Und weil wir Evangelischen sowieso in dieser sehr stark katholischen Gegend, in der ich aufgewachsen bin, in der Minderheit waren und dementsprechend auch kleinere Schulgruppen da waren, gab es keine Alternativen. Also diese Ethik, Werte und Normen Unterricht, den gab es bei uns an der Schule nicht, weil es gab einfach nur evangelische oder katholische Schüler und dann war der Carsten da, der auf einmal gar nix war und da war die Schule auch mit überfordert und hat mir dann angeboten, dann hast du Freistunden und das war ziemlich cool. Also ich war der einzige Schüler, der dann zu dem Zeitpunkt frei hatte. Und das habe ich natürlich genossen.

Und gerade an den Zeiten, wo dann dieser Religionsunterrichtsstunden in der ersten oder sechsten Stunde stattfanden - damals gab es maximal sechs Stunden, das hat sich ja heute auch schon geändert - hatte ich dann entweder die Möglichkeit, später zur Schule zu kommen oder früher Feierabend zu machen. Und das war so meine Freiheit, die ich genossen habe. Und die habe ich dann über die meisten Schulformen hinweg auch tatsächlich nochmal so beibehalten, diese Freiheiten, und das war eigentlich schon so ein Ausdruck von: Eigentlich habe ich gar keine richtige Lust, all das mitzumachen, was dort auf dem Lehrplan draufsteht. Ja, andere Fächer haben mir Spaß gemacht und dann, da war aber auch meine persönliche Neigung zu spüren.

Also ich sage jetzt mal der Informatikunterricht, ich bin IT-lastig groß geworden. Ich bin dann relativ früh mit Computern in Kontakt gekommen, aber alles Autodidakt. Das war etwas, da hatte ich Spaß dran und dementsprechend habe ich mich dort auch sehr stark engagiert. Auch zum Wohlwollen meiner Lehrer·innen, die damals auch sehr von mir lernen konnten. Also es war tatsächlich so, dass wir Schüler·innen, die IT-affin waren, den Lehrer·innen eigentlich mehr beibringen konnten. Okay, es hat sich auch nie geändert. Also es war egal auf welcher Schulform, egal in welchem Alter. Also die Lehrer·innen, die waren eigentlich nie in der Lage, uns Stoff beizubringen. Also sie konnten das begleiten, aber letztendlich waren wir, als als diejenigen, die neugierig waren und als IT Nerds da unterwegs waren, denen um Längen überlegen in jeder Hinsicht. Was natürlich dann auch wieder die Frage stellt warum gab es damals eigentlich Informatikunterricht?

Stefanie Wobei das ja dann jetzt, also wenn wir nachher mal zum Thema quasi kommen, was wir eigentlich ansprechen wollten, das ja schon eine Art Lernform ist, wie sie eigentlich das Lernen begünstigt, dass die Lehrer·innen einfach nur als Begleiter·innen da sind und dich in deiner Neigung unterstützen.

Carsten Genau, genau das waren auch die Fächer, die wirklich Spaß gemacht haben. Da habe ich mich drauf gefreut. Alle anderen Fächer habe ich mehr oder weniger über mich ergehen lassen und habe auch teilweise je nach Schulform einfach nur noch für die Noten gepaukt. Ja, das sind auch tatsächlich die Fächer, wo ich heute kein Wissen mehr in mir trage. Das ist weg. Das ist bis zu der Prüfung, bis zu der Klausur gewesen und dann anschließend versackt, weil ich es nie wieder gebraucht habe. Ja, das war auch oben im Gehirn zentral nicht fest genug verschaltet, dass ich das über Jahre hinweg irgendwie etabliert hat, sondern es war damals während meiner Ausbildung Berufsschule, da wurde ich vom Ausbildungsbetrieb angehalten gute Noten zu schreiben. Habe ich dann auch gemacht. Da ist nichts von hängen geblieben.

Stefanie Na ja, das ist bei mir mit Mathe so, tatsächlich. Ich war eigentlich ziemlich gut in Mathe. Ich hatte zwar keinen Mathe Leistungskurs, aber ich habe trotzdem eigentlich ganz gute Noten in Mathe gehabt. Aber dann irgendwie vier Jahre später, also nach meinem Studium, hat mich nochmal ein Nachbar angesprochen, ob ich ihm helfen kann bei Matheaufgaben und ich: Ja klar. Und dann habe ich die Matheaufgaben angeguckt und ich habe nichts mehr verstanden, gar nichts mehr. Alles weg. Es war alles weg. Ich habe wirklich nichts mehr verstanden und ich weiß jetzt auch nicht, wie das mal wird, so später mit Mathe und unserem Kind. Aber im Moment. Also ich habe einfach während des Studiums kein mathematisches Wissen gebraucht. Und nach diesen vier Jahren bzw. das waren fünf Jahre, weil ich vor dem Studium noch ein Jahr Auszeit hatte, war alles Wissen weg. Es war alles weg. Ich war wirklich gut in Mathe, aber es war alles weg. Also es ist nichts mehr geblieben.

Carsten Ja, und das ist ja im Grunde genommen, da haben wir im Vorfeld schon drüber gesprochen, eigentlich auch sinnbildlich für das Resümee, was wir aus unserer beider Schulzeiten ziehen, dass gefühlt 80 - 90 % des damals vermittelten Wissens heute weg ist, weil es nicht benötigt wurde. Es wurde uns damals eingetrichtert, wir haben teilweise auch gute Noten geschrieben, um auch diesem Leistungsanspruch, der damit verbunden war, gerecht zu werden. Aber letztendlich, so im wirklichen Leben, ist es eigentlich völlig überflüssig gewesen. Und ich persönlich, für meine Seite muss sogar sagen, das, was ich heute beruflich ausübe, habe ich mir selber beigebracht, Also die Grundlagen, die ich damals in der Schule gehabt habe, die helfen mir null weiter. Lesen, schreiben, rechnen. Ja gut, aber das sind ja jetzt keine Raketenwissenschaften.

Aber alles das, was irgendwo speziell in den Fächern gelehrt wurde, also sprich Physik, Chemie, keine Ahnung. Da wo es in eine bestimmte Fachrichtung geht. Das ist heute entweder komplett weg oder ich brauche es schlichtweg nicht. Und das, was ich brauchte, um das zu erreichen, was ich heute beruflich mache, das musste ich mir selber beibringen. Komplett alles. Weil auch diesen Beruf, den ich heute ausübe, den gibt es als Ausbildungsberuf gar nicht. Also das konnte ich auch nicht lernen. Und bei mir stand einfach der berufliche Werdegang darin, dass ich Zeit meines Lebens, auch heute im Beruf eigentlich aktiv lerne. Ich lerne die Tätigkeit, die ich ausübe, jeden Tag aufs Neue. Bei mir ist im Grunde genommen die Kernkompetenz nicht darin, Wissen mitzubringen in den Job, sondern eher eine gewisse Neigung, Lösungskompetenzen mitzubringen. Also die Fähigkeit, mir die Lösung ad hoc beizubringen. Learning by doing. So, das wurde mir in der Schule aber nie beigebracht. In der Schule ging es immer nach einem bestimmten Schema.

Stefanie Ja, da muss man diesen Stoff abarbeiten, so wie es von den Lehrer·innen vorgegeben wird. Und da geht es um Noten und Prüfungen. Und da geht es auch darum, wer ist besser und wer ist schlechter und eigentlich nur um diese Leistung.

Carsten Ja, ich habe meine Berufsschulklasse gehasst. Gerade mal meinen Klassenlehrer, der genau dieses „Wer ist besser, wer ist schlechter?“ auch bei diesen Klausuren durch eine geordnete Reihenfolge der Klausurausgabe dann noch mal plastisch dargestellt hat. Also die Einserkandidat·innen haben ihre Klausuren zuerst bekommen und die schlechtesten zum Schluss. Und im ersten Jahr war ich immer einer von denen, die als letztes die Klausuren ausgeteilt bekommen haben. Nachdem ich dann Anpfiff von meinem Ausbildungsberuf bekommen habe, die ja darauf gedrängt haben, dass ich gute Noten schreibe und ich gesagt habe Leute, ich habe zwar schlechte Noten, aber zu dem Zeitpunkt habe ich noch so gelernt, dass das Wissen bei mir verhaftet war. Also ich konnte aus dem Gedächtnis, die Lösungen beibringen, aber es war nicht kompatibel mit der Prüfungssituation.

Und dann habe ich auf stur geschaltet und habe gesagt: okay, gut, dann schreibe ich gute Noten, aber dann bleibt von dem Wissen nichts da. Das hat einmal im zweiten Jahr dazu geführt, dass mein Klassenlehrer - ich bin mit ihm wirklich nicht warm geworden - dann, als ich dann als zweiter die Klausur zurückbekommen hatte mit einer eins, sich den Kommentar nicht verkniffen hat und wirklich vor der kompletten Klasse gesagt hat: „Das war ja wohl ein Versehen“ und hat mir die Klausur dann hingelegt. Dieses Versehen hat dann zwei Jahre gedauert. Ich war immer einer von den ersten fünf, die dann nachher die Arbeiten ausgehändigt bekommen haben. Aber was ich vorhin schon sagte, heute weiß ich gar nichts mehr von dem, was ich damals mal aufgeschrieben habe. Tolle Noten gehabt, aber kann ich mir heute auch ein Eis von backen...

Stefanie Ja, es geht tatsächlich da nur in unserem derzeitigen Bildungssystem um dieses Konkurrenzdenken und das zu fördern. Und darum geht es eigentlich jetzt auch in dem Film, den wir hier in dieser Folge vorstellen wollen. Der Film wurde uns empfohlen. Das hört sich jetzt gerade an wie eine Werbung. Dieser Film wird präsentiert von... Der Film wurde uns empfohlen von unserer Podcasthörerin Amy. Und dafür noch mal ganz herzlichen Dank. Es ist wirklich merkwürdig, dass wir den vorher noch nicht gesehen haben. Der ist nämlich schon 2013 erschienen. Der Film heißt „Alphabet“.

Carsten Der Film ist von Erwin Wagenhofer. Der hat auch „We Feed the World“ und „Let's make money“ gemacht, zwei sehr bekannte Dokumentationen. Aber diese dritte, „Alphabet“, ist uns, wie Stefanie gerade schon sagte, eigentlich bisher völlig unbekannt gewesen, obwohl wir uns mit dem Thema Bildung und Schulsystem gerade in unserer jetzigen Familienkonstellation aktiv auseinandergesetzt haben.

Stefanie Ja, wir hatten „Schools of Trust“ gesehen und ich habe vor drei oder vier Jahren angefangen, mich mit dem Thema „Unschooling“ zu befassen und mit dem Thema „Freilernen“ auch. Also was gibt es für Alternativen zu unserem aktuellen Schulsystem? Und wie wir dir ja schon erzählt haben, hatten wir eigentlich gedacht, das Schulsystem sei alternativlos, so wie einige andere Dinge auch in dieser Welt.

Carsten Ja, eine gesellschaftliche Grundvoraussetzung, die man so nicht hinterfragt, weil sie eigentlich ja immer so sind.

Stefanie Dabei ist es tatsächlich erst so, seit ungefähr 100 Jahren, dass die Schule in dieser Art existiert. Und ich habe durch den Film auch noch mal viel Neues kennengelernt. Ich dachte, ich weiß schon alles über dieses Thema, aber es sind einige neue Aspekte zum Vorschein gekommen.

Carsten Ja, was für mich ganz spannend war, war diese Erkenntnis, dass das aktuelle Bildungssystem, wo wir ja gemeinhin glauben, es gibt nichts anderes, es ist so und das ist ja vielleicht sogar gottgewollt, keine Ahnung, wo es herkommt, aber die Wurzeln dieses Systems stecken in der industriellen Revolution. Da kommt es ursprünglich her und es hatte damals den Gegenstand auf drei verschiedenen Ebenen die notwendigen Menschen zu formen. Auf der untersten, ganz breiten Ebene, die breite Masse, da wollte man Arbeiter·innen erziehen, bilden, formen. Leute, die letztendlich an den Maschinen ihre Hebel betätigen und dort physische Arbeit verrichten und nichts hinterfragen, die eigentlich nur ausführen. Es gibt vorne eine·n Vordenker·in, eine·n Lehrer·in, der·die vorgibt, was zu machen ist, was richtig und was falsch ist. Und es gibt ja meistens auch immer nur eine richtige Antwort und in der Hinsicht wurde man eingenordet. Und das hat eigentlich 100% funktioniert zum damaligen Zeitpunkt, weil man brauchte eigentlich unkritische Geister, die einfach nur, ich sag jetzt mal Anweisungen befolgt haben.

Dann darüber hinweg gab es dann wieder eine kleinere Schicht an Leuten, die im Verwaltungsbereich tätig waren. Das waren dann, ich sage jetzt mal so Manager, mittleres Management und ganz on top, das war diese Elite, die nachher auch im universitären Umfeld ausgebildet werden konnte und wurde. Das sind dann so Leute gewesen, die in den oberen Positionen wie zum Beispiel Ärzt·innen, Richter·innen oder auch Politiker·innen dann platziert werden konnten. So, das war ein sehr stark hierarchisches Gefälle und das sind wirklich so die Ursprünge. Da kommt das Bildungssystem her, da hat es sich etabliert und hat sich und das ist ja die wirklich wichtige Erkenntnis, seitdem auch nicht mehr gewandelt.

Es wird ja seit der Etablierung immer wieder wiederholt und alle, die wir jetzt hier quasi in der heutigen Zeit mal zur Schule gegangen sind, wurden ausgebildet von Leuten, die das damals auch schon gemacht haben und auch die wurden ausgebildet von Leuten, die das auch schon durchlaufen haben. Also wir sind quasi schon so in diese Leitplanken gepresst, so dass im Grunde genommen keine·r mehr auch nur in die Lage versetzt wird, von seiner·ihrer Bildung her das Ganze zu hinterfragen, sondern man läuft quasi diesen Weg mit. Und das führt natürlich dazu, dass ich heute Personen heranzüchte oder ausbilde, die letztendlich verlernen, ihre kreative Veranlagung irgendwie leben zu können. Die wird quasi verstümmelt. Und das ist auch etwas, was da in diesem Film sehr schön hervorgehoben wurde.

Stefanie Dazu möchte ich jetzt einmal den Hirnforscher Gerald Hüther zitieren. Es gibt einen Booklet noch zu dem Film, das ist auch sehr lesenswert. Das habe ich einmal durchgelesen und ein Interview mit Gerald Hüther gibt es da drin. Und daraus möchte ich einmal zitieren:

„Jedes Kind kommt ja bei seiner Geburt mit einem Gehirn zur Welt, in dem sich anhand des aus seinem eigenen Körper ankommenden Signalmusters bestimmte Netzwerkstrukturen herausgeformt haben. Jedes Neugeborene hat deshalb ein Gehirn, das genau zu seinem Körper passt. Und weil jedes Neugeborene einen anderen Körper hat, hat auch jedes ein anderes Gehirn. In jedem Fall ist dieses Gehirn gut und perfekt organisiert. Dann wächst dieses Kind in eine Gemeinschaft hinein, deren Vertreter, also wir, der Meinung sind, dass bestimmte Fähigkeiten bedeutsamer und wertvoller sind als andere. Diejenige Fähigkeit, die wir momentan für besonders wichtig halten, ist die Fähigkeit zum analytischen, kognitiven Denken. Das aber ist nur eine von den vielen Begabungen, mit denen Kinder auf die Welt kommen.

Es gibt aber auch Kinder, die haben eine wunderbare handwerkliche Begabung, eine besondere Begabung für Körperbeherrschung oder für soziale Interaktion und deren Gestaltung. Es gibt Kinder, die sind besonders sensibel und haben deshalb eine spezielle Begabung für feinste Wahrnehmungen. All das spielt aber in unserem gegenwärtigen Begabungsbegriff keine Rolle, weil wir eine Begabung über alle anderen stellen. Und es ist dann auch diese eine Begabung, auf die es in der Schule heute ankommt und nach der dort selektiert wird. Deshalb kommen nur diejenigen Kinder am besten durch diese Erbsensortieranlage, die diesen Selektionskriterien genügen, also jene, die in der Lage sind, sich innerhalb kürzester Zeit das dort angebotene Wissen anzueignen und es dann in der Prüfungssituation wieder von sich zu geben.“

Carsten Dieses Zitat stammt jetzt aus diesem Booklet, obwohl Gerald Hüther auch ein Protagonist in diesem Film ist. Gerald Hüther an sich ist ja relativ bekannt in der Szene. Wer sich mit diesem Thema Bildung und Schulformen auseinandersetzt, wird immer mal wieder über seinen Namen stolpern. Und es ist für mich eine ganz, ganz, ganz wichtige Person, weil er damals über 20 Jahre lang Hirnforschung betrieben hat, um zu verstehen, wie funktioniert das menschliche Gehirn und er jetzt einer der Befürworter·innen ist, diese Erkenntnisse aus der Hirnforschung in das Bildungssystem hineinzutragen. Und wie gesagt, er ist Protagonist in dem Film, kommt in vielen Sequenzen vor und sagt auch ganz, ganz wichtige Worte, die alle dafür sprechen, das Bildungssystem komplett anders aufzustellen. So, und da sind wir auch wieder bei dem Thema Alternativen, also das, was wir anfangs von unserer eigenen Schulerfahrung so wahrgenommen haben, dass dieser Bildungsweg eigentlich alternativlos ist, das trifft einfach nicht zu.

Stefanie Genau. Es gibt nämlich jetzt mittlerweile jede Menge Alternativen und es gab die auch schon früher. Nur haben wir sie nie wahrgenommen oder als spinnert abgetan, weil wir in diesem System aufgewachsen sind. Und hier schließt sich dann auch wieder der Kreis zu unserem Podcastthema im Sinne von weiter wie bisher geht es nicht. Denn das Bildungssystem ist der Spiegel des Wirtschaftssystems. Im Bildungssystem wird dieses höher, schneller, weiter Konkurrenzdenken gefördert und das gleiche ist im Wirtschaftssystem immer höher, schneller, weiter und wir müssen raus aus allem, raus aus diesem System.

Carsten Also zum einen ist das ja auch darin begründet, dass die Wurzeln unseres jetzigen Bildungssystems in der industriellen Revolution stecken. Das ist ja im Grunde genommen schon ein Indiz dafür, dass aufgrund der wirtschaftlichen Notwendigkeit dieses Bildungssystem so entstanden ist. Und es hat diesen Pfad nie verlassen. Also diese Kopplung an das Wirtschaftssystem ist nie verlassen worden und es ist jetzt so eng miteinander verzahnt, dass ich eigentlich die Art des Wirtschaftens nicht ändern kann, wenn ich die Art der Bildungsvermittlung nicht grundlegend anders aufsetze. Und ich glaube, Gerald Hüther war es auch, der in dem Film ein ganz tolles Beispiel nannte, um einfach mal so diesen, diesen Aspekt dieses Konkurrenzkampfes hervorzuheben.

Er sagte, wir sind ja evolutionsmäßig damals mal als Einzeller gestartet, also Einzeller, so wie wir heute jetzt in diesem Bildungssystem als einzelne Personen gefördert und gefordert werden, wo es nur noch darauf ankommt, möglichst stark im Konkurrenzkampf anderen überlegen zu sein, gute Noten zu haben, einen guten Bildungsdurchschnitt und dementsprechend auch gute Zukunftschancen zu erarbeiten. Aber diese Einzeller haben es ja evolutionär nicht unbedingt an die Spitze der Evolution geschafft, sondern das funktionierte nur in dem aus Einzellern Mehrzeller wurden. Man brauchte eine Gemeinschaft um evolutionär überhaupt voranzukommen. Und dieses Gemeinschaftsgefühl, das fehlt uns jetzt ja quasi im wirtschaftlichen, aber auch im Bildungsbereich und da müssen wir wieder hin, dass wir schon von der Bildung her nicht mehr diesen individuellen Ehrgeiz und dieses Herausarbeiten von Eliten, sondern eigentlich dieses Zusammenhalten, dieses solidarische Prinzip wieder in den Vordergrund stellen. Und da fällt mir jetzt wieder ein, wie der Film „Alphabet“ beginnt. Der guckt nämlich auf China.

Stefanie Genau. Einmal werden da einige Schüler gezeigt, wie sie in dem Bildungssystem in China tatsächlich geknechtet werden, muss man ja schon sagen. Und es kommt auch ein Bildungsinspektor zu Wort, der dort in China tätig ist, der dieses Bildungssystem, wie es jetzt in China existiert, das sich an unserem westlichen Bildungssystem orientiert, sehr stark kritisiert, genau deswegen, weil es jetzt dieses Konkurrenzdenken gibt seit der Marktöffnung und vorher, sagt er, gab es das nicht. Vorher gab es diese Gemeinschaft und ein Miteinander. Und damals waren die Schüler·innen glücklicher und zufriedener. Und heute ist es so, dass die Kinder ziemlich gedrillt werden auf Leistung. Und was sich zum einen darin ausdrückt, dass sie versuchen, 13 Jahre Schule in zehn zu pressen und die Kinder immer früher mit immer komplexeren Aufgaben konfrontieren. Und zum anderen hat er auch erzählt, dass bei den Collegeprüfungen es regelmäßig zu Selbstmorden kommt und dass die Suizidrate relativ hoch sei, weil da der Anspruch so hoch ist und die Jugendlichen denken, dass sie, wenn sie versagen, kein Recht mehr auf Leben haben.

Carsten Die sind einfach total überfordert mit der Anforderung, die aus diesem Lerndruck entsteht. Und da sind auch Schüler·innen dort zu Wort gekommen, die einfach gesagt haben, dass sie ihre Eltern und die Erwachsenen generell in der Hinsicht beneiden, dass die Erwachsenen abends Zeit haben, um eventuell noch mal Fernsehen gucken zu können, dass sie Freizeit haben, dass sie auch am Wochenende ausschlafen können. Und das ist den Schüler·innen nicht mehr vergönnt, weil die außerhalb der Schule so viel Zeit wie möglich aufbringen müssen, um diesen Lernstoff zu verarbeiten. Und ich muss das ja noch mal wiederholen: 2013 wurde diese Dokumentation gefilmt. Damals war es schon so, dass die Chines·innen mit einem Hochdruck diesen Konkurrenzkampf in dieses Bildungssystem hineingepresst haben, um diese Eliten auch auf internationaler Ebene herauszuformen.

Das war so extrem, dass es aus meiner jetzigen Perspektive immer noch sehr überspitzt scheint. Nicht umsonst hat China damals in den PISA Tests einfach immer als Nummer eins abgeschnitten, weil die ihre Kinder so gedrillt haben. Ich glaube auch, das hängt damit zusammen, dass man eine solche Drucksituation nur in einem verhältnismäßig totalitären Staat aufbauen kann. Aber das ist so für mich ein Sinnbild gewesen, wo die Tendenz hin geht, dass die Chines·innen da noch mal ein oder zwei Schippen oben draufgelegt haben und das Ganze sehr stark beschleunigt haben, zulasten der Kinder, denen die Kindheit verloren geht. Die werden einfach komplett gedrillt.

So, und wie gesagt, diese Tendenz selber ist ja in den westlichen Industriestaaten auch zu spüren. Also die Thematik Schulreform. Und wie soll die Schule aufgestellt werden und wie schneiden wir in den PISA Tests ab? Also diese Konkurrenzkampf innerhalb und unterhalb der Schulen, der wird ja stark thematisiert und immer mit dem Fokus, wie können wir bei PISA oder ähnlichen Tests am besten abschneiden.

Und da fällt mir jetzt gerade nochmal eine Anekdote aus diesem Film ein, dass diese ganze Perspektive, die in dieses Bildungssystem hineingetragen wird, gar nicht aus Sichtweise der der Kinder und der Jugendlichen reinkommt, sondern von uns Erwachsenen auf die Jugendlichen überstülpt wird. Und wir Erwachsenen sind ja auch geprägt von diesem System. Wir haben es ja nicht geschafft, aus diesen Bahnen auszubrechen und mal Alternativen heranzuziehen, sondern wir stülpen denen quasi dieses Konzept über. Die Kinder, die im Grunde genommen eigentlich diese angeborene Fähigkeit zu Genialität haben, die haben ja gar keine Chance, sich da zu emanzipieren und zu sagen: Nee, wir brauchen eigentlich was anderes, um gefördert zu werden.

Stefanie Ja, und wenn du jetzt sagst „angeborene Fähigkeit zur Genialität“, da ging es auch um einen Test, den, der ich meine, das ist auch von Gerald Hüther angesprochen wurde, aber jedenfalls ein Test, der diese Genialität bei Menschen und bei Kindern insbesondere testet, nämlich komplexe Lösungsfindung. Und bei diesem Test waren von den 3 bis 5-jährigen, die daran teilgenommen haben, 98 % genial und dann wurde das immer weniger, aber schon krass weniger. Ich meine, als nächstes wurden die 9 bis 12-jährigen getestet und da waren es dann nur noch irgendwie so 38 % und dann wurde es immer weniger. Dann wurde einmal eine Vergleichsgruppe von über 25-jährigen getestet und da waren nur noch 2 % genial. Und die Zusammenfassung war einfach: ein Mensch, ein Baby startet als geniales Wesen und endet dann als genormt und ungenial.

Carsten Gerald Hüther hat auch nochmal gesagt, dass wir alle hochbegabt zur Welt kommen, diese Hochbegabung dann aber so eingenormt wird, dass nur noch einige wenige, die auch wirklich in dem Sektor, der gefördert wird und auch der gefordert wird, genial sind. Und bei den restlichen verebbt diese restlichen Kompetenz Hochbegabung, da die bei uns im Wirtschafts- und im Bildungssystem einfach nicht benötigt oder nicht gefordert wird. Und das ist natürlich absolut beängstigend. Und gerade dieser Test selber, den du angesprochen hast, das hat mir, ich saß da und habe mit dem Kopf geschüttelt, weil das war etwas, was über mehrere Jahre hinweg auch mehrfach wiederholt wurde.

Das war jetzt nicht so irgendwie. Man hat 1,2,3 Leute hingesetzt, sondern das war eine relativ breit angelegte Studie, wo man in diesen Altersklassen mehrfach größere Gruppen von Schüler·innen immer mal wieder getestet hat und dann auf diese Durchschnittswerte kam. Und alleine zu verstehen, dass 98 % der Kleinkinder diese Veranlagung zur Genialität haben, also zur genialen Lösungsfindung, das hat mir einfach die Augen geöffnet, das wusste ich vorher nicht. Und wenn ich mich jetzt heute selber mal betrachte und denke wo bin ich eigentlich genial? Ich würde mir jede Genialität absprechen. Also ich steche jetzt überhaupt nicht hervor. Wahrscheinlich ist das aber auch etwas, wo damals aufgrund dieses kompletten Bildungspfades, den ich gegangen bin, einfach sehr viel verloren gegangen ist.

Stefanie Okay, aber wahrscheinlich, wenn wir da jetzt mal noch einen Schwenk machen, ist es denn überhaupt okay, sich selbst als genial zu bezeichnen?

Carsten Na, ich weiß ja nicht, wie dieses Konzept der Genialität aussieht. Ich habe das so verstanden, dass es um kreative Lösungsfindung geht.

Stefanie Ja, aber ich meine, ist es überhaupt okay? Also dürfte ich überhaupt sagen: ich bin genial? Oder sind wir nicht eigentlich auch schon so genormt, dass wir das gar nicht dürfen?

Carsten Ja, okay, genau, genau. Aber ich würde das sogar so sagen, dass wir es deswegen nicht sagen dürfen, weil diese Genialität ja vielleicht in ganz anderen Fähigkeiten schlummert. Ich würde mich zum Beispiel nie als kreativ betrachten. Vielleicht habe ich ja kreative Momente in mir, die aber so tief in mir stecken, dass sie einfach komplett unterfordert sind und auch nie gefördert wurden. Vielleicht lag es damals so in dieser Neigung der Informatik, da, wo ich einfach gemerkt habe, dass es interessant für mich ist.

Stefanie Ja, aber ist nicht das, was du vorhin erzählt hast, dass du immer Ad hoc Lösungen findest, gerade das Kreative?

Carsten Ja, okay, das mag durchaus sein.

Stefanie Es muss ja nicht immer malen bedeuten oder singen oder ein Musikinstrument spielen oder so, sondern kreativ kann ja auch heißen Dinge neu denken.

Carsten Ja, wobei okay, ja, kann ich akzeptieren, dass das vielleicht meine Genialität ist? Dann muss ich aber sagen, genau dieser Aspekt wurde nie gefördert. Den habe ich mir irgendwie bewahrt oder musste ich mir bewahren, weil das die Art und Weise war, wie ich meine Jobs gestaltet habe. Und ich habe immer in meinem Berufsleben Tätigkeiten ausgeübt, die ich nicht gelernt habe. Und das, was ich gelernt habe, habe ich nie ausgeübt, höchstens in der Ausbildung, aber auch da nicht so wirklich, dass ich da Spaß dran hatte. Die Ausbildung habe ich gemacht, weil ich eine Ausbildung machen musste. Aber wie gesagt, ich wurde nie gefördert. Es hat niemanden interessiert.

Stefanie Ja und das ist vielleicht noch mal dann ein Schwenk zum Film. Es wird dann natürlich auch gezeigt, wie es anders sein könnte. Und du kennst vielleicht schon André Stern, das ist der Sohn von Arno Stern, und Arno Stern hat diesen berühmten Malort in Paris. Und André Stern ist nie zur Schule gegangen. Und er meint selber, dass er immer so als der Gegenpart zu Disziplin gezeigt wird. Aber er meinte, ohne Disziplin wäre er auch nie so weit gekommen. Also er spricht auch Deutsch, er hat Fremdsprachen gelernt, er hat sich aber alles irgendwie selbst beigebracht.

Carsten Weil er es selber benötigte, aus eigenem Interesse. Er wollte sich bestimmte Themen aneignen und ich glaube, er hatte auch gesagt, wie er lesen gelernt hat. Genau, weil er einfach mit Büchern konfrontiert wurde, wo er gemerkt hat, da kann er Wissen rausziehen und dazu muss er lesen lernen. Im Vergleich zu heutigen Schulkindern hat er sehr spät flüssig lesen können. Aber das hat ihm einfach gereicht. Aber das spielt ja gar keine Rolle. Letztendlich geht es darum, dass er heute in der Art und Weise Kompetenzen erreicht hat, die ihn zu einem glücklichen und und zufriedenen Leben gebracht haben und die aus heutiger Sicht - ich muss sagen, der wirkt, von den Kompetenzen, die er ausübt, wie jemand, der ein extrem hohes Bildungsniveau hat.

Stefanie Ja, und er sagt auch selber, dass er das Glück hatte, sich nie vergleichen zu müssen. Es gibt noch so einen Extrafilm zu dem Film sozusagen, in dem André Stern mit seinem kleinen Sohn, der da dann vier ist, gezeigt wird und wo sie nochmal erzählen, wie jetzt ihr Leben ist mit dem Sohn und wie das für ihn gestaltet wird und wo dann quasi Großeltern, Eltern, Kind noch mal alle Sterns sozusagen gezeigt werden. Den hat Carsten jetzt noch nicht gesehen, deswegen kann ich nur darüber sprechen und da wird dann auch nochmal deutlich, genauso wie im Film Alphabet, dass André Stern und auch sein Sohn, ihren Neigungen folgen dürfen.

Und die Mutter von André Stern sagt auch, dass es wichtig war, das Kind einfach nur zu begleiten, dass die Kinder alles mitbringen und dass man ihnen nichts aufdrücken muss oder so, sondern dass die Begabungen alle da sind und es geht jetzt einfach nur darum, dass sie ihnen selbst folgen und dass man sie dabei begleitet. Sie einfach unterstützt, zum Beispiel beim Lesen lernen, dass man einfach nur da ist und ihnen dann das auch beschafft, was sie brauchen, um jetzt lesen zu lernen oder Gitarre spielen zu lernen. Oder so, wie André Stern erzählt hat, dass er selber sich beigebracht hat, eine Gitarre zu bauen auch. Und dann, als er das dann über Videos und alles mögliche angefangen hat, ist er dann zu einem Gitarrenbauer gegangen und hat gefragt, ob er da lernen darf. Und der hat gesagt: Ja klar, komm. Und das heißt einfach vertrauen in das Kind, dass das Kind lernen will und dass das Kind alles mitbringt und dass man es nur begleiten muss.

Carsten Aber zu dem Zeitpunkt, wo das Kind es dann einfordert, also nicht so wie heute, dass ich quasi in die Schule komme und von der ersten Klasse an einen bestimmten Stoff vermittelt bekommen muss, weil es so im Lehrplan steht, sondern wenn das Kind meint, ich muss erst ab dem 7., 8., 9., 10. Lebensjahr anfangen zu lesen, dann ist das so, dann braucht das Kind diese Fähigkeit vorher noch nicht. Es wird aber früher oder später dahin kommen. Das setzt natürlich auch eine große Vertrauensbasis voraus, dass man dem Kind einfach vertraut und sich nicht miteinander vergleicht und sagt okay, andere Kinder sind vielleicht schon in der ersten Klasse so weit zu lesen und mein Kind kann das noch nicht im Alter von was weiß ich wie viel Jahren, sondern man muss das Vertrauen haben, dass das Kind dann zu dem richtigen Zeitpunkt - und der richtige Zeitpunkt ist immer individuell, von Kind zu Kind unterschiedlich - dann anfängt, sich mit den Themen zu beschäftigen.

Stefanie Und das dann in Gemeinschaft, also das Lernen in Gemeinschaft. Und das finde ich auch so wichtig, weil wir ja auch an diesen Punkt jetzt gekommen sind, dass wir denken, wir brauchen eine Gemeinschaft und auch unser Traum und unsere Vision von einem veganen Dorf und einem Dorf als Lernort und auch die Möglichkeit, einfach dann seinen Neigungen nachzugehen, sowohl als Kind als auch als Erwachsener und das Vertrauen zu haben, dass sich das in der Gemeinschaft schon gibt und dass es nicht darum geht, höher, schneller, weiter und vergleichen, sondern ein Vertrauen zu entwickeln, dass jede·r in seiner·ihrer Begabung richtig ist und dass es nicht die eine Begabung gibt, die wichtiger ist als alle anderen, sondern dass sich die Begabungen ergänzen und dass - das fand ich sehr schön an dem Film - das nochmal auch wissenschaftlich begründet ist, dass das nicht nur eine Theorie ist, die philosophisch ist oder psychologisch im Sinne von erdacht oder beobachtet, sondern auch neurowissenschaftlich belegt. Und das finde ich wirklich, das hat mich sehr beeindruckt und ich kann dir den Film wirklich nur sehr, sehr empfehlen. Und ich finde, dass es sehr wichtig ist, das Bildungssystem ebenso zu ändern wie das Wirtschaftssystem, also wirklich dieses ganze Lebensmodell, in dem wir leben, zu ändern und nachhaltiger zu gestalten und wirklich mehr darauf anzupassen, dass es zu uns als Menschen passt und nicht dazu passt, wie wir jetzt mehr Geld verdienen oder die Wirtschaft ankurbeln können.

Carsten Ich gehe sogar so weit, dass ich mittlerweile glaube, dass wir zuerst das Bildungssystem neu aufsetzen müssen. Weil aus der Quelle, aus meiner Meinung, die tatsächliche Generation oder Menschen entstehen werden, die unsere Zukunft gestalten. Wenn ich jetzt natürlich Menschen in einem Bildungssystem heranzüchtet, die eigentlich nur Jasager sind und in bestimmten Leitplanken denken, dann kann ich auch nicht verlangen, dass sich dort in Zukunft grundlegend etwas verändert. Wenn ich jetzt aber ein Bildungssystem fördere, wo ich die freie Meinungsvielfalt entstehen lasse, ich muss sie ja noch nicht mal fördern, sondern sie ist ja per se in uns verankert und ich dadurch dann aber Menschen habe, die nicht einfach alles wortlos schlucken, sondern die auch ihre eigene Meinung vertreten und auch einfach mal sagen: Moment, das passt nicht so wie ihr das macht, die einfach auch tatsächlich mal Kontra geben und sich auch trauen, dann habe ich auch die gesellschaftlichen Grundlagen, um auch disruptive und grundlegende Veränderungen zu erwirken.

Stefanie Ja, das stimmt. Ich habe vorher tatsächlich, also noch bevor wir überhaupt den Film gesehen haben, also ganz vor kurzem sozusagen, da gar nicht so stark drüber nachgedacht, dass es wichtig ist, das Bildungssystem als Ganzes zu stürzen. Also mir war es schon wichtig, aus diesem Bildungssystem auszusteigen, aber eher so im Sinne okay, dann macht ihr weiter, aber wir machen nicht mehr mit. Aber jetzt durch den Film habe ich wirklich das Gefühl, genau wie du, dass es sehr wichtig ist, da auch anzusetzen und auch das zu ändern, dass das alles ineinander greift und alles zueinander gehört. Und wenn wir wirklich unserer Vision folgen wollen, ein neues Wohlstandsmodell zu entwickeln, dann gehört das Bildungssystem einfach dazu.

Carsten Und dementsprechend kann ich mich deiner Empfehlung anschließen. Dieser Film ist sehenswert. Egal ob deine Kinder schon erwachsen sind, egal ob du Kinder hast oder vielleicht noch keine, ob du Kinder hast oder nicht. In jeder Lebenssituation. Setz dich gerne oder auch bitte, bitte, bitte mit diesem Thema auseinander, weil es aus meiner Sicht wirklich fundamental ist, einfach dieses Wissen zu besitzen. Dass es zum einen eine Alternative gibt und dass sie tatsächlich so wichtig ist.

Stefanie Ja, und das es nicht diejenigen, die heute schon die Alternative leben, dass es keine spinnerten komischen Ökofutzi sonst was sind, sondern dass es wirklich darum geht, aus dem System auszusteigen und dass das essenziell wichtig ist. Ich habe auch vorher so gedacht: Waldorfschulen, was sind das denn für welche? Und all diese alternativen Ökoleute und so, aber seien wir mal ehrlich, das haben wir vorher auch über vegan gedacht. Was ist das denn? All diese Öko Leute usw.

Und wir kommen immer wieder und immer wieder an diesen Punkt, dass wir merken okay, guck mal da, da habe ich auch irgendwie falsch gedacht. Das ist überhaupt nicht so und ja, wir sind Menschen, wir machen Fehler und wir sind Menschen, wir können lernen und uns ändern und wir können tatsächlich aus unseren Fehlern lernen. Und deswegen hier die Einladung auch an dich: Schau dir diesen Film an und schau, wie er auf dich wirkt. Es ist wirklich an der Zeit, das Bildungssystem komplett zu kippen und Menschen, die freie Schulen planen, die aus diesem Bildungssystem aussteigen, zu unterstützen. Und es gibt hier in Hamburg bei uns mittlerweile immer mehr Neugründungen, immer noch ganz wenige, aber immer mehr Neugründungen. Und es wäre wunderbar, wenn auch das, sowie das vegane Leben irgendwann die Norm wäre, dass es wirklich darum geht, frei zu lernen und Vertrauen in die Kinder zu stecken und nicht mit Misstrauen ihnen zu begegnen und zu sagen Ihr braucht Disziplin und nur so lernt ihr, sondern darauf zu vertrauen, dass Kinder von Natur aus lernen wollen.

Wir haben das an unserem Kind beobachtet, dass wir können es also aus eigener Erfahrung bestätigen: Unser Kind will lernen, es will von Geburt an lernen. Und ich beobachte das immer wieder an Kindern. Die wollen lernen. Und es sind wir Erwachsenen, die denen immer wieder Grenzen setzen und auch dann vergleichen und sagen: Du musst jetzt das und das lernen und du musst jetzt lesen lernen, Du musst jetzt schreiben lernen, du musst jetzt rechnen lernen. Und vielleicht, wenn es dann noch nicht so weit ist - es fängt sogar schon an mit: Du musst jetzt laufen lernen, wenn das Kind noch nicht mit anderthalb Jahren läuft. Das habe ich sogar bei einem Nachbarskind damals beobachtet, dass es dann hochgezogen wurde, weil es hieß: Du musst jetzt aber mal laufen, du musst laufen. Das war einfach noch nicht so weit, und das Kind weiß das selber. Es weiß, wann es so weit ist, eine bestimmte Fähigkeit zu lernen und es will lernen. Also es gibt unter Garantie kein Kind, das nicht lernen will. Es gibt nur eine Umgebung, die das Kind daran hindert zu lernen und die es dazu bringt, nicht mehr lernen zu wollen.

Carsten Genau. Also ich muss die Aussage so ein bisschen revidieren. Es gibt genügend Kinder, die nicht mehr lernen wollen, weil wir denen, die Lust aufs Lernen schon abgelernt haben, abtrainiert haben. Aber von vornherein bringen sie genau diese Veranlagung mit.

Stefanie Ich meinte jetzt originär. Originär wollen Kinder lernen, aber wenn sie zu lange in diesem System drin sind, dann natürlich nicht.

Carsten Ja. Ganz ehrlich, wer von uns Erwachsenen hat denn noch Lust, zur Schule zu gehen?

Stefanie Wir würden alle nie wieder zur Schule gehen, oder?

Carsten Uns ist die Lust aufs Lernen vergangen.

Stefanie Es gibt natürlich genügend, die dann sagen, ich mach noch die Ausbildung und die Ausbildung und die Ausbildung.

Carsten Aber das ist ein anderes Setting, weil ich dann Freiheit habe, weil es entweder Interessen sind, die mich leiten und sagen, ich möchte genau in diese Themen mit rein oder ich verspreche mir Karrierechancen dadurch.

Stefanie Und es kann natürlich auch sein, dass du diesen inneren Trieb hast, dass du denkst, ich muss erst diese neue Ausbildung machen und dann bin ich es wert, das und das zu tun. Also, dass du dieses Gefühl hast, du bist nur wertvoll, wenn du noch eine Ausbildung machst.

Carsten Das ist dann wieder so, dieser Wettbewerbscharakter und dieses Vergleichen, da wollen wir raus. Und deswegen setz dich bitte mit dem Thema auseinander. Schau dir diesen Film an. Wenn du mehr über das Konzept der freien Schulen wissen möchtest, dann greif gerne zu „Schools of Trust“, weil diese freien Schulen selber in dem Film „Alphabet“ nicht vorkommen. Da geht es eigentlich mehr um den Aspekt: Wo kommen also die wissenschaftlichen Fakten, wo steuert unser jetziges Bildungssystem hin und das Freilernen an sich? Die Thematik ist einfach zu wichtig, zu brisant und einfach zu grundlegend, als dass wir sie nicht weiter betrachten sollten. Und damit sind wir eigentlich auch schon am Ende angelangt und wollen diese Folge auch nicht beschließen ohne uns bei all den Leuten zu bedanken, die uns in irgendeiner Art und Weise unterstützen.

Stefanie Sei es finanziell über Steady oder per Email oder durch iTunes Rezensionen. Wir freuen uns immer darüber und ganz, ganz herzliches Dankeschön!

Carsten Dankeschön.

Stefanie Dann würde ich sagen in diesem Sinne.

Carsten In Hamburg sagt man wieder einmal Tschüss.

Stefanie Und auf Wiederhören.

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